Brot oder Bier?

Lucy Reim und Hanno Schroeder setzten sich für ihren Jahrgang mit dem Begriff „Reifezeugnis“ auseinander und entdeckten verblüffende Bezüge.

Abi_Entlassung-16Hallo!

Wir, das sind Lucy und ich Hanno, halten jetzt einen Vortrag über das „Reifezeugnis“.

Als erstes stellen wir euch die Gliederung vor. Wir beginnen mit der Wortherkunft des Begriffes „Reifezeugnis“, weiter geht es mit einem Bezug zum Menschen und zum Abschluss das Ende.

Komme wir zum ersten Punkt. Der Begriff Reifezeugnis setzt sich aus dem lateinischen referre cerem zusammen, zu Deutsch die Saat zurücktragen. Der Begriff stammt aus der Agrakultur und beschreibt das mögliche Ende des Entwicklungsprozesses eines Saatkorns, den wir im Folgenden erläutern.

Am Anfang war die Saat noch ganz klein und unbearbeitet. Das ist ein bisschen so, wie ein Schüler beim ersten Schultag. Die Saat hat noch große Ziele! Brot! Voller Motivation beginnt das Wachstum. Es wird eine Pflanze gefüllt mit ein mal eins, Schreibschrift, Füllerführerschein und HSU. Jeder Morgen wird neu besungen und die Saat gedeiht. Nach vier Jahren ist sie schon eine ausgewachsene Weizen-Pflanze. Man sind die groß geworden.

Jetzt wird sie geerntet, zu Mehl verarbeitet und kommt in die Bäckerei! Für die Saat ist das ein bisschen so, wie der Schritt von der Grundschule zum Gymnasium bei uns Menschen.

Sie sieht jetzt sogar schon die ganz Großen. Voller Ehrfurcht betrachtet sie den Teig. So groß will ich auch mal werden! Das Mehl wird mit Wasser, Salz und Zucker zusammengeworfen. Hoch interessant, wie das alles mit Bio, Physik und Chemie abläuft. Eigentlich versteht es aber nichts davon. Frust kommt auf, denn der Bus kommt nicht (kleiner Scherz am Rande). Die eigentliche Motivation, ein großes Brot zu werden, schwindet. Neue Ideen kommen auf. Warum ist nur Mehl geworden? Es hätte auch Bier werden können! Bier ist toll, denkt es sich. Dann müsste es nicht zehn Stunden täglich bearbeitet werden, sondern könnte de ganzen Tag ins seinem Fass vor sich hinreifen. Bier ist toll.

Langsam sprechen die Bäcker davon, dass es jetzt ernst wird. Wer noch ein gutes Brot werden will, muss jetzt dran bleibe und nicht in sich zusammensacken. Unwichtige Produkte wie CO2 oder andere Gase, die nebenbei entstehen, verflüchtigen sich. Das ist ein bisschen so, wie wenn wir zu Beginn der Oberstufe uns leider von sehr wichtigen Fächern wie Latein, Erdkunde, Chemie oder Physik trennen müssen. Obwohl man sich eigentlich konzentrieren müsste, kommen auch andere Sachen zum Leben dazu. Gras bekommt eine neue Bedeutung und die Kartoffel erzählt von ihrem Werdegang, der auch sehr interessant klingt.

Irgendwie schafft man es aber doch noch zum fertigen Teig. Ihm wird nun das Reifezeugnis überreicht. Damit steht er nun vor der schwierigen Entscheidung, was für ein Brot er werden soll. Aufgrund des unterschiedlichen Entwicklungsprozesses jedes einzelnen Teiges ist es nicht mehr am Bäcker, zu entscheiden, welches Brot er wird. Für den Teig ist das ein bisschen so, wie anfangs für die Saat. Er wird quasi zurück zum Anfang geführt. Deswegen referre cerem, die Saat zurücktragen, Reifezeugnis. Was aus ihm wird, steht noch in den Sternen. Die Saat konnte sich entscheiden, ob Brot oder Bier, ob Mehl oder maische. Der Teig muss sich entscheiden, ob Brot oder Brötchen, Vollkorn oder Rogge. Der Teig steht an der gleichen Position wie damals die Saat. Am Anfang eines neuen Abschnitts. Jetzt fühlt sich der Teig noch groß wie einst der fertige Weizen, doch in der Welt des Brotes ist er wieder klein. Das ist ein bisschen so wie bei uns und damit kommen wir zum zweiten Punkt, dem Bezug zum Menschen.

Der Begriff Reifezeugnis wird weitläufig auch als Synonym für das Abiturzeugnis verwendet. Auch wir Schüler stehen vor einer Entscheidung, zwar nicht zwischen Vollkorn und Roggen aber zwischen Studium und Ausbildung. Manche gehen so weit, diesen Zustand psychosoziales Moratorium zu nennen, andere wissen nicht, was das bedeutet. Das hindert sie natürlich nicht daran, diesen Begriff geradezu inflationär im Deutschabitur zu verwenden. Auch wir Schüler haben Erfahrungen mit Bier, Gras und möglichen Kartoffelendprodukten gemacht. Auch wir Schüler kriegen unser Reifezeugnis in die Hand gedrückt und haben keinen Bäcker mehr, der uns sagt, was jetzt. Also, was jetzt? Was bedeutet Reifezeugnis tatsächlich für uns Schüler und damit sind wir bei unserem letzten Punkt, dem Ende.

Hinter uns liegen nun zwölf Jahre Schule mit insgesamt 24 Zeugnissen. Was unterscheidet dieses letzte Zeugnis nun von dem 24 anderen außerhalb der bürokratischen Relevanz? Sind wir offiziell erwachsen? Sind wir ein vollwertiges Mitglied unserer Gesellschaft? Wenn morgen Bundestagswahlen wären, dürfte die Hälfte von uns nicht mitwählen. Und trotzdem werden wir ins Leben hinausgeworfen mit den Worten, entscheide selbst, ob Vollkorn oder Roggen.

Das Abitur bescheinigt den Schulabschluss und damit das Erreichen eines hohen Wissensstandes. Wir sind in der Lage logisch zu denken, wir sind in der Lage, eine eigene Meinung zu entwickeln, wir haben ein Verständnis fürs Weltgeschehen und haben einen Überblick über die Geschichte. Und nicht nur das. Wir können ein Polarimeter kalibrieren, wir wissen, dass Kafka Russe war (zumindest glauben wir das), wir können eine Waschmaschine nachahmen, können Jumpstyle tanzen, kennen das Duell zwischen Effi Briests Lover Crampas und Graf von Innerstedten. Oder Innstedten? Ach egal, hat eh keine gelesen. Zusammengefasst wissen wir alles, was man wissen muss. Außer vielleicht, Dinge des alltägliche Lebens. Wir wissen nicht wie eine Versicherung abzuschließen ist, wie das eigentlich mit Steuern ist von der Rente ganz zu schweigen, wie wir ein Haus bauen, einen Baum pflanzen und ein Kind zeugen. Ok das vielleicht schon.

Sind wir also vielleicht unfähig im tatsächlichen Leben zu leben? Wir kennen die Gretchen-Frage aber keine Antwort auf die Roggen-Vollkorn-Frage. Wozu also das Reifezeugnis?

Vielleicht fehlt uns das Wissen um eine Steuererklärung, vielleicht fehlt uns das Wissen um eine Versicherung und vielleicht fehlt uns das Vermögen zur vollständigen Selbstständigkeit, aber dafür haben wir gelernt, zu lernen. Wir haben uns durch 12 Jahre Schule gequält. Rückschläge, Erfolge und Stress bewältigt und somit die Erfahrungen gesammelt, die uns helfen, künftige Probleme ins Selbstständigkeit zu überwinden. Wir haben Selbstbewusstsein, Sozialkompetenz und eine Vorstellung unserer eigenen Interessensfelder erlangt, die uns ermöglichen unseren zukünftigen Lebensweg zu formen.

Die Saat hatte das Ziel ein großes Brot zu werden und wir sind nun so weit, zu sagen, was wir wirklich wollen. Wir stehen vor der Entscheidung, was wir mit unserem Lebensvorhaben und habe nun die Möglichkeit zu konkretisieren. Wir wollen nicht mehr nur eins der großen Brote werden, sondern wir wollen uns selbst verwirklichen. Das Reifezeugnis öffnet uns also die Türen der Welt, eintreten müssen wir aber selber.

Lucy Reim und Hanno Schroeder