„Wir haben nicht nur vor, sondern hinter Euch gestanden.“

Als Klassenlehrerin der Q2c begründete Kathrin Maetzel, warum man eigentlich zur Schule geht – und weshalb die Abiturientinnen und Abiturienten darüber hinaus gewachsen sind.

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Warum geht man zur Schule?

„HALLO?“, sagt eine meiner Töchter. „Da treff’ ich meine FREUNDINNEN! Vorne steht jemand, der quatscht die ganze Zeit, aber das stört nicht groß.“

Nun ja.

Hier also einige Anmerkungen von mir, die, wie alle Eure Lehrerinnen und Lehrer, jahrelang vor Euch stand. Hoffentlich stört’s nicht groß. Aber vielleicht bemerkt Ihr rückblickend auch, dass wir nicht nur vor Euch, sondern meist hinter Euch gestanden haben.

Liebe Abiturientinnen und Abiturienten, verehrte Festgäste,

„Ich kann nicht oft genug davor warnen, diese Analysen zu überschätzen, da sie ja doch nur zu dem führen, was ich immer bekämpft habe: zur Erkenntnis wie es gemacht ist; während ich immer erkennen geholfen habe: was es ist!«

Mindestens die Q2c weiß mit diesem Zitat von Arnold Schönberg etwas anzufangen; wir haben im Musikunterricht darüber diskutiert, ob der Komponist Recht damit habe, zu behaupten, dass sich das WIE dem WAS unterzuordnen habe. Die Frage nach der Machart einer Sache sei also nicht so entscheidend wie die Frage nach ihrem Wesen.

Ziemlich einhellig habt Ihr Schönberg widersprochen und festgestellt, dass es doch hilfreich sein könne, zu durchschauen, wie etwas gemacht ist, eine Struktur, einen Mechanismus zu kennen, einen Gegenstand zu erforschen.

Dann wollen wir mal bei unseren Abiturientinnen und Abiturienten die Probe aufs Exempel machen, bitte meldet Euch deutlich:

– Wer kennt sich aus in der Zwölftontechnik, der Dodekaphonie?

– Wie steht’s mit „Collateralized Debt Obligations“ (CDOs)?

– Wer ist Experte für das „verfassungsrechtliche Konstrukt einer Präsidialregierung durch Notverordnungen“?

– Wer weiß etwas über „Trumpismus“?

– Und über „Polymerasekettenreaktion“?

– Oder die „Intelligenz der Linie“?

Liebe Gäste, lassen Sie sich gerne die Sachverhalte bei einem Gläschen Sekt im Anschluss an diese Veranstaltung im Foyer vom Abiturienten Ihres Vertrauens erläutern.

Es ist richtig und wichtig, Sachverhalte zu kennen. Wir brauchen Euch als Experten! Unsere Zukunft hängt davon ab, dass Ihr Bescheid wisst! Und doch, es bleibt dieser Vorbehalt: ginge es nur um reines Wissen, wie armselig wäre das denn!?

Ich gehe einen Schritt weiter und behaupte: Es ist richtiger und wichtiger denn je, vermeintliche Sachverhalte zu hinterfragen. „Echt einmalig – Echtes erleben“ – mit diesem schönen Slogan wirbt beispielsweise das Outletcenter Bad Münstereifel. Wer dort einkauft, muss wissen, dass es sich bei den niedlichen Dorfgässchen, in denen man so schön bummeln kann, um reine Fassade handelt, um Betonbauten, die nachts von LKW mit in Plastik eingeschweißter Massenware beliefert werden. Das Leben ist doch kein Outletcenter! Es ist echt – zum Glück!

Oder: Wenn Otello am Ende der Oper seine – eigentlich heißgeliebte – Desdemona erwürgt (fragt Simon, der spielt da mit), dann tut er das, weil er fataler Fake-News aufgesessen ist und glauben wollte, was Jago ihm eingeflüstert hat.

Sachverhalte zu kennen ist gut! Ein gesundes Misstrauen zu entwickeln gegenüber allem, was einem weisgemacht werden soll und auch gegenüber dem, was man sich selbst gern weismachen will, das kann besser sein!

Aber das Wesen der Dinge zu erkennen, wie Schönberg es ja fordert, die Frage nach dem WAS ES SEI, wie kann das gehen?

Es soll bei den Internationalen Ferienkursen für Neue Musik in Darmstadt gewesen sein, als ein paar Musikstudenten auf den berühmten Komponisten zugingen und eifrig sagten: „Herr Schönberg, wir komponieren auch in der Zwölftontechnik.“ „Das ist ja toll“, entgegnete Schönberg. „Und machen die Herren auch Musik?“

Zuerst glaubte ich, als ich von dieser Anekdote hörte, dass es Schönberg um den Unterschied zwischen Zwölftonmusik und anderer Art von Musik ging, also um eine Gattungsunterscheidung. Inzwischen sehe ich, dass er wohl eher zwischen „Musik komponieren“ und „Musik machen“ differenzieren wollte, es ihm also auf die Erlebniskategorie ankam. Dabei ist es nicht entscheidend, etwas perfekt zu können, sondern, etwas mit Hingabe, mit Herzblut, im Moment zu tun, am besten gemeinsam, im Ensemble. Fehler gehören dabei zum Programm, erst live wird etwas zu einem echten Erlebnis.

Zum Wesen der Dinge vorzustoßen, das funktioniert wohl nur über das „Machen“.

Also: Los geht’s! Ihr seid frei, Ihr sollt und Ihr müsst aufbrechen und neue Wege ausprobieren. Wer denn, wenn nicht Ihr? Geht los, scheitert meinetwegen, steht wieder auf, richtet das Krönchen, keep calm and carry on.

Hinfallen ist nicht schlimm. Verglichen mit dem Leid, das viele unserer Mitmenschen – und auch manche von Euch – erdulden mussten und müssen, ist es nichts.

Dass Euer Leben in guten Bahnen verlaufen möge, das wünschen wir Euch. Es soll die Balance halten zwischen dem angebrachten Misstrauen gegenüber allem Schein und dem entscheidenden Vertrauen ins Sein. Seid versichert, dass wir, die wir im Johanneum zurückbleiben, Euch Glück auf Eurem Weg wünschen. Wir haben uns bemüht, eine Grundlage zu schaffen, die trägt, die Euch ins Leben trägt, mit Handwerkszeug und einem wachen Geist, mit einem Gespür für Recht und Unrecht, mit einem Selbst- und Verantwortungsbewusstsein. Aber wir wissen auch, dass wir höchstens den Samen gelegt haben für etwas, das ein Leben lang aufgehen muss. Er ist gut angelegt bei Euch, dessen bin ich gewiss, denn Ihr habt von Euren Zukunftsplänen erzählt; darunter sind etliche soziale Projekte und Berufswünsche, die Euren Talenten entsprechen und ein hohes Maß an Verantwortungsbereitschaft erkennen lassen.

Euer Abimotto ist „ABIleave I can fly“. Über den Wortwitz kann man unterschiedlicher Meinung sein, geschenkt. Außerdem bin ich seit dem gelungenen Abistreich und den schönen – übrigens fairgehandelten – Abishirts sowieso versöhnt.

„ABIIeave I can fly“, heißt das nun: „Abitur verleiht Flügel?“ Vielleicht.

Auf jeden Fall spüren wir alle, dass da mehr ist als akademische Nüchternheit. „Du kannst fliegen, Mensch!“ Die Philosophie spricht von Metaphysik, die Theologie von Glaube. Yes, I believe, you can fly. Mal ehrlich, kann man sich einen besseren Startpunkt für den Absprung in die weite Welt vorstellen als eben Euren?

Warum geht man zur Schule?

Meine Antwort ist: Damit man sie eines Tages nicht mehr braucht. Ihr seid jetzt soweit.

So werdet flügge und geht hinaus ins Leben: Ihr Fleißigen, Ihr Faulen, Ihr Stillen, Ihr Lauten, Ihr Überflieger, Ihr So-grade-noch-die-Kurve-Kratzer, Ihr Naturwissenschaftler, Ihr Künstler, Ihr Sprachler, Ihr Politiker, Ihr Historiker, Ihr lieben Musiker, Ihr Johanneer.

Wir gratulieren Euch von Herzen zum bestandenen Abitur!

Kathrin Maetzel