Spuren hinterlassen
Sehr geehrte zur ‚Abi-Entlassung 2024‘ Versammelte!
Sehr geehrt, zu Ihnen sprechen zu dürfen, möchte ich gleich mit der Tür ins Haus zu fallen:
Mit meinem Auftritt hier verfolge ich nämlich zwei Ziele:
Erstens möchte ich meiner ‚alten‘ Schule Dank sagen; danken für den wohlwollenden, liberalen Geist, aus dem der Anspruch erwuchs, sogar schwierige Inhalte – und das persönlich überzeugend – für uns erreichbar zu vermitteln, somit auf verschiedenste Studiengänge vorzubereiten. Bei unserem Klassentreffen wurde das für viele unserer Lehrkräfte erst kürzlich würdigend hervorgehoben. Man konnte einfach nicht anders, als sich nach Kräften Mühe zugeben. – Und mehr geht nun ‚mal nicht.
Ein Wort zu den Inhalten: Natürlich haben der China-Kurs von Dr. Spetzler, die binäre Algebra bei Herrn Grönke, die feinsinnigen Monologe des Herrn Overgaard, oder die scharfe Sprachanalyse bei Herrn Wohlers nicht alle in idealer Intensität durchdrungen. Mit zunehmender Distanz – in zeitlicher und entwicklungspsychologischer Hinsicht – haben sowohl Inhalte als auch die sie gestaltenden Persönlichkeiten bei uns in wachsender Abstraktheit aber Spuren hinterlassen. Uns allen wünsche ich die Muße, in dieser Hinsicht gelegentlich in sich hineinzuhorchen. Hadern wir also nicht gleich mit dem, was man uns zu lernen vorgeschrieben hat.
— Mt stellt ein Kinderspielzeug vor sich. —
Glauben Sie im Ernst, dieses Spiel hätte zu unserer praktischen Lebensbewältigung beigetragen?
Gewiss nicht! Aber es hat Spuren in die sich entwickelnden Gehirne gezogen, und zwar strukturelle, hier hinsichtlich Ordnung, Farbe und Kommunikation. Dazu Analog beschränken sich die Schulfächer auf modellhafte Planspiele, ohne Anspruch auf Praxistauglichkeit oder wissenschaftliche Vollständigkeit, aber je nach pädagogischem Mainstream.
Zu Zweitens, dem Grußwort: Verehrte Funktionsträger – Seien Sie, Frau Ministerin, Herr Stadtpräsident, Herr Bürgermeister, Herr Oberstudiendirektor, wertes Kollegium, herzlich gegrüßt. Sie nehmen heute Blick auf die Ergebnisse Ihres dienstlichen Einsatzes.
Verehrte Träger elterlicher Sorge – Seien Sie, Mütter, Väter, Paten, stolz, – und seien Sie herzlich willkommen. Sie feiern heute ein Zwischenergebnis Ihrer Fürsorge und erzieherischen Bemühungen. (Sie wissen aber schon auch, dass da noch mehr auf Sie zukommt.)
Liebe Hoffnungsträger – ja, gemeint sind Sie, liebe Abiturientinnen und Abiturienten, heute ein vorläufig letztes Mal in der Schule? Alle da? Keiner fehlt? Na dann, einen gutenTag! Sie werden heute feierlich verabschiedet. Darum dürfen Sie Ihre Bindung an die Schule überwinden und ihre Steuerung begierig anderen Lehrenden und – vor allem – sich selbst anvertrauen. Das Loslassen fällt durchaus schwer; dennoch sollen Sie aufbrechen, damit Sie nun endlich all das erproben, was in Ihnen angelegt ist, das austesten, was Ihre Sozialisation in Ihnen angestoßen hat, und die Dinge bewahren, die Sie lieb gewonnen haben.
Ich beneide Sie um Ihre Jugend und die Vielfalt Ihrer Gestaltungsmöglichkeiten. Sie werden sehen, es wird noch spannender, aufregender, und Sie werden Ihre Schritte bewusster gehen und Ihre Entscheidungen als bedeutungsvoller empfinden. –
Die Relationen zwischen Freiheit, den bohrenden Fragen des Gewissens, der abwägenden Vernunft und der Verantwortung hat man Ihnen doch erklärt ?
Damit wünsche ich Ihnen Glück!
Ihr Andreas Matthiae (Abiturjahrgang 1974, OI bm)