Auf in die Zukunft!

Nur 6 Gesichter kannte ich von meiner Grundschule, als ich damals auf das erschreckend riesige und fremde Johanneum kam. Acht Jahre später sind daraus über 110 bekannte Gesichter geworden.

Es hat sich, ganz besonders in den letzten zwei Jahren, eine kleine Gemeinschaft aus unserem Jahrgang gebildet – irgendwo zwischen den Klassenfahrten, dem gemeinsamen Beschimpfen der OZD am Staffeltag und 6-stündigen Klausuren in der Aula. Wir sind miteinander aufgewachsen. Haben uns gegenseitig bei „unseren wichtigsten Jahren“, wie meine Oma sagen würde, beobachtet.  Ihr seid die Personen, über deren Stimmbruch und erste Zahnspange ich mich lustig machen konnte. Ihr seid die Personen, vor denen ich mich für meine Zahnspange geschämt, und dann relativ schnell bemerkt habe, dass es eigentlich niemanden von euch wirklich juckt.

Die Personen, mit denen ich die berüchtigten Klassenfahrtgespräche geführt habe – über die gruseligen ersten Tage, ersten Freund, ersten Schluck Alkohol.

Die Personen, die meine Welt, Werte und politischen Ansichten immer wieder gefordert und geformt, mit mir zusammen gestritten und gelernt haben.

Wir kennen uns, und ich bin froh darüber. Ein kleines bisschen dieser gemeinsamen Reise wollen wir heute mit euch Revue passieren lassen.

Wir alle hatten ähnliche Beweggründe für unsere Schulwahl: Geschwister, Freunde, der Musikzweig oder doch die wunderschönen Mädchentoiletten mit Kronleuchter und Schminktischen.

Ich kann mich noch genau daran erinnern, wie ich bei unserer Einschulung mit meinem Blümchen in der Hand, stolz in Herrn Fellers Objektiv grinste, umgeben von etwa 30 anderen Zwergen, jeder so aufgeregt wie ich.

Mit dem Eintritt in die Unterstufe waren unsere größten Sorgen ähnlich klein wie wir: Unbekannte Gesichter, strengere Lehrer, ein scheinbar riesiges Schullabyrinth und die unglaubliche Enttäuschung, nicht die beste Klasse Deutschlands geworden zu sein.

Schneller als gedacht konnten wir uns im, doch gar nicht so gigantischen, Schulgebäude zurechtfinden, verstanden endlich Abkürzungen wie H105 und R107 und leuchteten fröhlich in unseren nagelneuen ampelroten Schulpullis. Spätestens nach der Kennenlernfahrt war dann auch niemand mehr wirklich fremd.

Zumindest bis sich, trotz Debatten,  unsere neu geformten Klassenverbände schon für die 7. Klasse wieder auflösen mussten.

In der Mittelstufe machte sich das Thema Klimawandel in den Nachrichten und unseren Köpfen breit. Freitags wurde jetzt geschwänzt für Fridays for Future oder eine verfrühte Heimreise. Wir lernten gemeinsam Zukunftssorgen kennen, wählten Klimascouts und ärgerten uns trotzdem ein wenig darüber, dass wir unsere Capri-Sonne nun aus Pappstrohhalmen trinken mussten. Klima bewusst, ohne Flieger, ging es dann auf in die Harzfahrt. Skifahrt – nur ohne Ski. Dafür bewanderten einige Mutige den Brocken, wir lernten Polonaise Tanzen mit Herrn Schulz und verliefen uns mit klitschnassen Schuhen beim Geocaching im Wald.

Wieder angekommen wurden wir überrascht von Menschen in Masken und bald unserem ersten Lockdown.

Die Corona-Zeit war ein Bruch im normalen Schulalltag, den wir alle sehr individuell verkraftet haben.

Ich persönlich wollte mit 14 sowieso nicht das Haus verlassen. Während mir mit einigen anderen der Lockdown und das Ausschlafen gut in den Kram passten, entstanden für viele ganz neue Herausforderungen: Langeweile, Einsamkeit durch die soziale Isolation, Sorge um die Gesundheit Angehöriger. Doch wir überstanden diese prägende Zeit, durch verschiedensten Coping-Mechanismen.

So entstanden Toilettenpapiervorräte und Netzwerke für das Weiterleiten von Arbeitsaufträgen, die komplexer waren als die eines mexikanischen Drogenkartells. Ob nun euer WLAN oder Ton leider zufälligerweise in jeder Videokonferenz kaputt war oder nicht, wir saßen schon bald wieder zusammen im Präsenzunterricht, wenn auch mit Wattestäbchen in der Nase und Maske vorm Mund.

Mit dem Eintritt in die Oberstufe ging dann der Ernst des Lebens richtig los: Noten wurden zu Punkten, das Du wurde zum Sie und Arbeiten zu Klausuren. Die Klausurenphasen wurden nun zu unserer neuen Sorge – zumindest ab der Qualifikationsphase. Innerhalb unserer einjährigen Einführungsphase vertraten viele unter uns den Ansatz das E steht für Egal, wobei man sich vornahm dann im nächsten Jahr richtig durchzuziehen.

Mit mittelmäßigem bis gutem Erfolg.

Das darauffolgende Jahr wurde ausschließlich gepaukt und schließlich mit einer Profilfahrt belohnt.

Es ging nach Bilbao, Wien, Brüssel, Tirol, Amsterdam oder Straßburg, selbstverständlich mit dem Ziel, das Profilfach noch einmal aus einer anderen, privateren Perspektive kennenzulernen.

Für viele war die allerletzte Klassenfahrt auch mit ein wenig Sentimentalität verbunden. Das letzte Schuljahr, das zuvor so weit entfernt schien, stand nun unmittelbar bevor. Zwischen Stadtführungen, Museumsbesuchen und dem Weg zurück nach Lübeck wurde uns langsam klar: Das war unser letztes gemeinsames Mal. Und vielleicht war genau das der Moment, in dem wir wirklich verstanden haben, dass sich diese gemeinsame Zeit bald dem Ende zuneigt – und dass genau das sie so besonders macht.

Ein kleiner Urlaub vor dem Eintritt in die zweite Qualifikationsphase tat uns allerdings allen gut, denn danach stürzten wir uns direkt in die Vorbereitung unseres bevorstehenden Schulabschlusses und die neu entstandenen Abi Komitees machten sich an die Arbeit.

Diese letzte Phase unserer Schulzeit war für die Entstehung einer Gemeinschaft aus unserem Jahrgang von besonderer Bedeutung. Bis zur Oberstufe haben wir zwar bereits viele Sorgen geteilt und individuell gemeistert, jetzt aber gingen wir unsere erste gemeinsame Herausforderung durch Zusammenarbeit an, die Vorbereitung eines Abiturs.

Einen Abiball zu organisieren und besonders das Budget dafür zusammenzukratzen ist doch mehr Arbeit als wir anfangs leichtfertig dachten. Die zahlreichen Versuche des Kuchenverkaufs brachten nicht die erwünschten Einnahmen. Die nächste glorreiche Idee: ein Boxautomat, der wirklich Wunder versprach. Für einen geringen Betrag konnte man all seinen Frust über die letzte Klausur oder das schlechte Wetter bei unserer hübsch blinkenden neuesten Anschaffung herauslassen. Der Frust war jedoch vielleicht etwas zu groß oder der ein oder andere Knochen doch etwas zu schwach – unsere Businessidee endete jedenfalls nur wenige Minuten später mit einem gebrochenen Arm und dem Besuch eines ebenfalls hübsch blinkenden Krankenwagen.

Die Johanneumsparty, abgesegnet von mindestens 20 Leuten, brachte uns schließlich auf jeden Fall kein Minus ein, anders als der obligatorische Triathlon, der sich wirklich ausgezahlt hat. Insgesamt konnten wir so unsere Kartenpreise drücken, wobei wir mit 55 € pro Karte in der MuK schon ziemlich stolz auf uns sind. Bei weiteren Aktionen und Planungen konnten wir des Weiteren viel über Schwierigkeiten und den Zerfall einer Demokratie lernen. Aber auch wenn vielleicht keine offizielle Wahl stattfand, wenn wir ehrlich sind, hätte niemand anderes wirklich Lust gehabt, all diese Verantwortung auf den Schultern zu tragen. Und deshalb wollen wir allen engagierten Kräften, den Komiteeleitern und insbesondere Muhammad für ihre Mühe, Arbeit und Zeit im Namen aller einmal Danke sagen.

Wir haben gemeinsam einiges durchgestanden. Die glorreiche Idee des G8 und folglich Unterricht von Sonnenaufgang bis Untergang, die schier unglaubliche Inflation der Mensa Preise und Jahr für Jahr den Schrecken des Kanallaufs, Bundesjugendspiele, Woyzecks Erbsen, Selbsteinschätzung der mündlichen Note, überlastete OX Server und die Angst um das Handy während man auf jeden Fall auf Webuntis war.

Aber wir haben auch einiges erreicht: die ersten zwei Plätze des Volleyballturniers, viel mehr Freundschaften als wir uns am Anfang vorstellen konnten, eine funktionierende Abiplanung und den höchsten deutschen Schulabschluss.

Einige Personen haben in besonderer Weise daran mitgewirkt, dass nicht nur heute, sondern über die letzten 8 Jahre und besonders diese letzten wichtigsten beiden, alles glattlief. Das sind zum einen unsere Profilleiter: Frau Maack, Herr Fromme, Herr Jacob, Herr Lüttig, Herr Klinger, Herr Feller und Frau Michaels.

Herrn Jacob wollen wir nochmal einen besonderen Dank aussprechen, dafür dass Sie uns als Oberstufenkoordinator in zahlreichen Jahrgangsversammlungen erklärt haben, wie Abi funktioniert, dass wir zu wenig Geld haben werden, egal wann wir anfangen es zu sammeln, und dass auf Spicken im Abi die Todesstrafe angesetzt ist. Und natürlich dafür, dass Ihr Büro immer offenstand für Fragen, Kurswechsel und jegliche andere Sorgen.

Ebenso wollen wir Herrn Janneck danken. Als Schulleiter waren Sie eine wichtige Konstante. Ein funktionierendes Cloud-System ist für uns Schüler und Schülerinnen selbstverständlich geworden. Während andere Schulen im Lockdown sich vorerst stabilisieren mussten, wurde vor allem durch Sie ein fließender Übergang ins Homeschooling ermöglicht. Die Digitalisierung am Johanneum wird vor allem durch Sie vorangetrieben.

Auch euch, liebe Eltern, möchten wir heute danken.

Ihr habt uns motiviert, beruhigt, finanziert und manchmal einfach nur ausgehalten. Ihr habt uns bei Vorträgen zugehört, beim Lernen geholfen und euch geduldig erklären lassen, warum die Aufgabenstellung dieses Mal wirklich unfair war.

Und natürlich wart ihr auch dann zur Stelle, wenn wir euch abends um 22 Uhr fragten, ob ihr noch schnell bei einer Präsentation helfen oder spontan Muffins für das Klassenbuffet am nächsten Morgen backen könnt.

Danke, dass ihr uns durch all das begleitet habt. Ohne euch wären wir heute nicht hier.

Und jetzt geht es irgendwie weiter. In unserer Planung sind wir wirklich verschieden aufgestellt. Während manche schon eine Wohnung gefunden, sich in ein Studium eingeschrieben und die nächsten 5 Jahre durchgeplant haben, sind andere momentan stolz, wenn sie es schaffen vor 13 Uhr aufzustehen und ihr Mittagsessen zu planen. Da ich mich stolz zu zweiter Gruppe zähle, fühle ich mich durchaus in der Position, euch als Letztes noch Ratschläge zu eurer Zukunftsplanung zu geben.

Nicht alle von uns schauen besonders motiviert oder hoffnungsvoll in diese Zeit nach dem Abi. Und das ist nicht allein so, weil ein Umbruch und das Verlassen alter Strukturen immer schwer ist und wir vor gigantische Lebensentscheidungen geworfen werden, sondern auch weil die letzten Jahre nicht unbedingt viel gute Hoffnung versprachen. Es ist doch relativ schwer, ein positives Mindset beizubehalten, wenn zusätzlich zu persönlichen Krisen, Schuldruck und dem ganz normalen Leben, die täglichen Nachrichten zum Horrorfilm werden.

Wir haben nicht nur eine Pandemie und die immer drängendere Klimakrise erlebt, sondern auch Kriege in Europa und im Nahen Osten. Dazu kam ein Rechtsruck in vielen europäischen Ländern und zuletzt Entwicklungen in den USA, die uns an der Stabilität von Demokratien zweifeln lassen. Es ist kein Wunder, dass Angst und Unsicherheit, vielleicht auch Misstrauen in die Politik und das Gefühl von Machtlosigkeit bezüglich unserer Zukunft keine unbekannten Emotionen sind.Eben diese Gefühle dürfen nicht in Resignation enden.

Oder wie es – ganz in Johanneums-Tradition Willy Brandt sagen würde: „Der beste Weg, die Zukunft vorauszusagen, ist, sie zu gestalten.“ Das ist natürlich einfach zu sagen.

Dass es leicht ist, macht es nicht falsch. Und dass es wahr ist, macht es noch lange nicht hilfreich. Vielleicht ist es aber gut zu hören, dass wir alle diese Zukunftssorgen in uns tragen. Und vor allem, dass wir früher oder später alle trotzdem einen Weg für uns finden werden und dass dies nicht heute oder morgen passieren muss. Wir dürfen Wut oder Verzweiflung empfinden – und trotzdem ohne schlechtes Gewissen heute einen wunderschönen Abschied feiern und hoffnungsvoll nach vorne blicken.

Und falls uns dies doch einmal schwerfällt, so kennen wir jetzt 110 Gesichter, welche mit uns in die erschreckend riesige und fremde Zukunft blicken.

Wir wünschen euch und uns für die bevorstehenden Entscheidungen ganz viel Ruhe und Optimismus.

Dankeschön.

Helena Stöter und Adrian Schlüter