Freiheit, Sicherheit und Verantwortung

Liebe Eltern, Kollegen und Gäste;
liebe Abiturientinnen und Abiturienten,
wir sind heute zusammengekommen, um gemeinsam Eure Abi-Entlassung zu feiern und Euch Eure Abiturzeugnisse zu überreichen – meinen herzlichen Glückwunsch!
„Abi-Entlassung“ bedeutet offensichtlich erstens, dass Ihr alle das Abitur erworben habt, die Allgemeine Hochschulreife. „Abi-Entlassung“ bedeutet zweitens, dass wir Euch entlassen, und zwar einerseits aus der staatlich auferlegten Schulpflicht. Ihr unterliegt also nicht mehr dem Zwang, morgens um acht auf der Schulbank zu sitzen (das Frühstück vielleicht noch in der Hand), nachts um zwölf den Arbeitsauftrag auf OX hochzuladen oder gar samstags um neun die verpasste Klausur nachzuschreiben. Denn „Abi-Entlassung“ bedeutet drittens andererseits, dass wir Euch in die Freiheit entlassen, die Freiheit, ab jetzt Eure eigenen Entscheidungen zu fällen.
Die jeweilige Entscheidung, was Ihr mit dieser Freiheit anfangen werdet, ist natürlich etwas sehr Individuelles. Vielleicht möchte der Eine von Euch Fernost erkunden, die Andere möchte in ihre erste eigene Wohnung ziehen; wieder Andere möchten im Ausland studieren. Das ist alles stark. Aber vielleicht beschleicht Euch manchmal auch ein komisches Gefühl. Muss ich das jetzt ganz alleine entscheiden?! Bin ich sicher, dass ich das wirklich will? Habe ich alle Eventualitäten bedacht? Dies gilt insbesondere angesichts der Tatsache, dass die Welt um uns herum unsicherer geworden ist.
Manche von Euch denken jetzt vielleicht, dass „die Welt um uns herum“ für individuelle Entscheidungen irrelevant ist. Aber für einige Entscheidungen ist sie eben doch relevant! Dazu zwei Beispiele: Wenn Ihr aktuell nach Fernost fliegen möchtet, solltet Ihr Euch Gedanken über die Flugroute machen: Die nördliche Flugverbotszone (Russland/ Ukraine) fällt schon länger aus, jetzt ist noch eine südliche Flugverbotszone (Iran/ Israel) hinzugekommen. Das heißt, Ihr müsst zwischen zwei Kriegsgebieten über das Schwarze und Kaspische Meer fliegen, durch einen 500 Kilometer breiten Korridor, den Ihr Euch mit zig anderen Flugzeugen teilen müsst. So richtig sicher fühlt sich das nicht an… (Sagt zumindest mein Mann, der da letzte Woche langgeflogen ist.)
Und wenn Ihr schon immer in Harvard studieren wolltet, solltet Ihr Euch aktuell Gedanken über Eure Social Media-Accounts machen, denn schon beim Beantragen des Visums müsst Ihr die komplett auf „öffentlich“ stellen. Kann es sein, dass Ihr Euch mal Migrations-freundlich oder gar Trump-kritisch geäußert habt? Kriegt Ihr dann überhaupt ein Visum? Oder werdet Ihr bei der Einreise gleich wieder zurückgeschickt? Uns was passiert, wenn Ihr an einer Demo teilnehmt, landet Ihr dann direkt in der Abschiebehaft? Möglicherweise löscht Ihr lieber gleich all Eure Accounts und verleugnet, wer Ihr eigentlich seid. So richtig frei fühlt sich das auch nicht an…
Die Liste ließe sich noch lange fortführen: Grenzkontrollen an europäischen Binnengrenzen, Abbau des Rechtsstaats, Klimawandel. Die Beispiele zeigen: Freiheit und Sicherheit sind zur Zeit auf der nationalen, europäischen und globalen Ebene gefährdet. Der Atlas der Zivilgesellschaft, erstellt vom evangelischen Hilfswerk Brot für die Welt, stellt fest, dass weltweit nur noch 3,5% der Menschen über uneingeschränkte zivilgesellschaftliche Freiheiten verfügen. Die Menschenrechte werden nicht nur in Kriegen und Konflikten verletzt. Und die Demokratie, jene Regierungsform, die zum Ziel hat, die Freiheit und Sicherheit der Bürger nach innen zu garantieren und Frieden zwischen den Staaten nach außen zu sichern, ist weltweit durch Populismus, Desinformation, Krieg und Gewalt stark unter Druck.
In dieser weltpolitischen Situation entlassen wir Euch jetzt in die „Freiheit“, eigene Entscheidungen zu fällen. Aber manchmal fühlt sich diese Freiheit dann doch wieder wie eine auferlegte Pflicht an, nicht wie etwas, dem man freudig und zuversichtlich entgegenschaut. Entscheidungen fällen zu müssen in Zeiten der Unsicherheit, das ist schon für ältere Menschen, die mitten im Leben stehen, beunruhigend und herausfordernd. Aber für jüngere Menschen, die am Anfang ihres Lebens stehen, kann dies erschreckend und überfordernd sein, das haben wir von Helena gerade gehört. Wer im Umbruch steckt, wer vertraute Strukturen hinter sich lässt, wer weitreichende Lebensentscheidungen fällt, ist auch ohne weltpolitische Probleme schon genug gefordert.
Theoretisch könntet Ihr daraus den Schluss ziehen, den Kopf in den Sand zu stecken und auf bessere Zeiten zu warten. Praktisch tut ihr das aber glücklicherweise nicht. Das ist zumindest das Ergebnis der Trendstudie „Jugend in Deutschland“ 2025, durchgeführt u.a. von Bildungsforscher Klaus Hurrelmann. Die Trendstudie sagt, dass die junge Generation politische Verantwortung übernehmen und sozial mitgestalten will. Wie aber übernimmt man Verantwortung in einer Krise, fällt man Entscheidungen unter Unsicherheit, wie bezwingt man scheinbar unüberwindbare Hindernisse?
Dazu eine kleine persönliche Geschichte: Ich war letztes Wochenende zu Besuch bei meinen Kindern im Harz, und wie viele von Euch wissen, gehen wir dann immer klettern. In diesem Fall fiel unsere Wahl auf das „Schaustück im Okertal“ – so nennt es der Kletterführer – nämlich die Marienwand. Die Marienwand ist steil, die Route ist nicht einfach zu finden und es gibt kaum fest eingebohrte Sicherungshaken. Wir waren also ein bisschen unsicher, ob wir uns das zutrauen sollten. Aber der Gipfel lockte und schließlich waren wir extra in den Harz gefahren, um uns der Herausforderung zu stellen. Also haben wir den Helm aufgesetzt, den Gurt angezogen, das Seil festgeknotet und das Material ausgepackt.
Nach all diesen Vorbereitungen stand ich unten an der Klippe und war, wie immer, aufgeregt und auch ein bisschen unsicher: Hatten wir eine passende Route ausgesucht? War der Schwierigkeitsgrad für uns realistisch?
Beim Klettern geben mir drei Dinge Sicherheit:
- Erstens: Unten steht meine Tochter, hält das Seil und sichert mich. Und auf die kann ich mich verlassen.
- Zweitens: An meinem Gurt hängt das Material, mit dem man Zwischensicherungen setzt – ich zeig‘ das mal: Es gibt Nuts – auf Deutsch heißen sie Keile [zeigen & erklären] – und es gibt Friends – auf Deutsch heißen sie Friends [zeigen & erklären]. Und auf Nuts und Friends kann man sich verlassen (wie auf gute Freunde).
- Drittens: Ich klettere seit acht Jahren, ich habe ein bisschen Erfahrung und kann beurteilen, ob der Griff hält, ob der Tritt gut ist und wo die Route verläuft. Und darauf kann ich mich auch verlassen.
Ihr steht jetzt ebenfalls vor einer steilen Klippe – vor dem ersten Abschnitt Eurer Lebenswand. Und vermutlich seid Ihr auch aufgeregt und ein bisschen unsicher: Habt Ihr die passende Route ausgesucht? Sind die Ziele, die Ihr Euch gesetzt habt, realistisch? Die Herausforderungen, mit denen Ihr konfrontiert seid, sind (anders als bei mir) völlig neu und manchmal scheinen sie vielleicht sogar unüberwindlich. Meine Erfahrung ist: Mit der richtige Seilschaft, mit der richtigen Ausrüstung und mit einer gewissen Portion Selbstkenntnis und Selbstvertrauen kann man auch eine ganz neue, steile Klippe bezwingen.
- Erstens Eure Seilschaft: Das sind natürlich Eure Eltern, die Freunde, die Ihr in den letzten acht Jahren gefunden habt, und vielleicht sogar ehemalige Lehrer (das Angebot zum Kaffeetrinken steht!). Und auf die könnt Ihr Euch verlassen.
- Zweitens Eure Ausrüstung: Das ist das Wissen, das Ihr im Laufe Eurer Schulzeit gesammelt habt, die umfangreichen sprachlichen, naturwissenschaftlichen und geisteswissenschaftlichen Fähigkeiten und Fertigkeiten, die Ihr (manchmal nicht ganz freiwillig) für die Allgemeine Hochschulreife erworben habt. Und darauf könnt Ihr Euch verlassen.
- Drittens Euer Selbstvertrauen: Das kommt aus der Fähigkeit, Dinge, Situationen und Euch selbst einschätzen zu können. Auf dieser Basis könnt Ihr Euch realistische Ziele setzen und diese auch erreichen. Denn auf Euch selbst könnt Ihr Euch auch verlassen.
Insgesamt habt Ihr also eine stabile Basis, auf der Ihr individuelle Entscheidungen fällen und persönliche Herausforderungen meistern könnt.
Diese Basis trägt aber noch viel weiter: Sie ermöglicht Euch, politische Verantwortung zu übernehmen und Gesellschaft zu gestalten. Sie ermöglicht, Euch für Freiheit und Sicherheit einzusetzen. Und sie ermöglicht Euch, Demokratie und Menschenrechte zu verteidigen. Denn diese sind das Fundament, auf dem Ihr Eure individuellen Träume (Fernost oder Harvard?) verwirklichen könnt. Für beide Ebenen gilt, wie Nelson Mandela gesagt hat: „Jeder kann über sich hinauswachsen und etwas erreichen, wenn er es mit Hingabe und Leidenschaft tut.“
Wir wünschen Euch dabei nur das Beste!
Dankeschön.
Katja Benkert