„Er lief nicht dem Zeitgeist hinterher, er hat ihn geformt.“

Die Musik hätte Willy Brandt sicherlich gefallen: Mit „Come together“ von den Beatles begrüßte die Jazz-Combo des Johanneums am 20. Oktober die Gäste einer Matinee, in der an die Wahl Willy Brandts zum Kanzler der Bundesrepublik Deutschland am 21. Oktober 1969 erinnert wurde.

Das veranstaltende Willy Brandt Haus, die SPD Lübeck und das Kulturforum Schleswig-Holstein e.V. hatten bewusst ins Johanneum eingeladen, wo Willy Brandt 1932 das Abitur abgelegt hatte. Eine Schule als Ort des Zusammenkommens passt aber auch zum inhaltlichen Programm des ersten sozialdemokratischen Bundeskanzlers: Selbst als uneheliches Kind geboren, aus dem Arbeitermilieu stammend und in der Lübecker Meierstraße aufgewachsen, lag ihm die Chancengleichheit Zeit seines Lebens besonders am Herzen. Bereits als Jugendlicher schrieb er Artikel für den „Lübecker Volksboten“, in denen er Bildungsgerechtigkeit unabhängig von der Herkunft forderte. Auch als Kanzler war es eines seiner zentralen Ziele, das Bildungssystem für alle zu öffnen, (Fach)Hochschulen auszubauen und durch die Einführung des BAFöG allen unabhängig von ihren finanziellen Möglichkeiten ein Studium zu ermöglichen.

An diese Politik erinnerte der ehemalige schleswig-holsteinische Ministerpräsident Björn Engholm – selbst  Johanneer – in seiner Rede. Er war bei der Kanzlerwahl 1969 selbst im Deutschen Bundestag dabei und erlebte, dass Brandt die Bundesrepublik „buchstäblich in die Moderne geführt“ habe. Unter seiner Regierung sei der Ost-West-Antagonismus aufgebrochen worden, er habe die Weichen zu Koexistenz und Kooperation der ost- und westeuropäischen Staaten gestellt, um eine Welt zu schaffen, in der alle friedlich und solidarisch zusammenleben könnten. Aktualisierend erkannte Engholm Brandts Durchhaltevermögen auf diesem politischen Weg an: „Die Mühen eines langen Weges nimmt nur auf sich, wer große Ziele vor Augen hat.“

Im Unterschied zum Wegbegleiter Engholm hat der Lübecker Bürgermeister Jan Lindenau Willy Brandt nur einmal live erlebt: 1992 in der Holstentorhalle. Er hob in seinem Beitrag hervor, dass Brandt trotz der langen Jahre des Exils in Norwegen immer wieder in seine Heimatstadt zurückgekehrt sei. Auch er verwies auf die bleibende Aktualität der Brandtschen Forderung „Mehr Demokratie wagen“. Dem berühmten Zitat sei der Satz gefolgt: „Wir wollen eine Gesellschaft, die mehr Freiheit bietet und mehr Mitverantwortung fordert.“ So ließe sich auch der Anspruch an eine moderne Schule formulieren.

Die schleswig-holsteinische SPD-Vorsitzende Serpil Midyatli beschrieb, wie sehr ihr Brandts Standfestigkeit, seine festen Überzeugungen und sein Durchhaltevermögen trotz Widerständen imponierten. Weltweit wäre auch heute seine Überzeugung hilfreich, dass Worte, Annäherung und Dialog immer mehr gezählt hätten als militärische Stärke. Brandt habe so maßgeblich dazu beigetragen, dass Deutschland in Europa wieder ein guter Nachbar geworden sei.

 

Dass dies möglich war, lag an einer hauchdünnen Mehrheit. Dr. Bettina Greiner, die Leiterin des Lübecker Willy Brandt Hauses, wies darauf hin, dass 1969 die NPD den Einzug in den Bundestag nur knapp verpasst hatte, nur dadurch wurde die sozialliberale Koalition möglich. Sie ging darauf ein, dass Brandt Mitbestimmung und Teilhabe von unten als Basis des Fortschritts gesehen habe.

Für eine Atmosphäre, die dem charismatischen Wesen Willy Brandts entsprach, sorgten bei der Matinee Annika Dahm am E-Bass, Clara Ipsen am Saxophon, Jonte Schröder am Klavier, Maximilian Thiele am Schlagzeug und Laurin Volz an der Trompete mit ihrem ausgesprochen professionell und animierend vorgetragenen Jazz.

Und wer mehr über den Lübecker Friedensnobelpreisträger erfahren möchte, dessen Bildungsweg vom Johanneum ausging, kann sich im Aulagang die informative Ausstellung ansehen oder auf die Leuchtzitate achten, die unsere Wege durch die Schule begleiten: „Man muss anfangen, wo ein Anfang möglich ist.“

Text: Inken Christiansen

Fotos: Ingo Socha