Jüngstes Opfer der Evolution: der Drahtesel

Wenn eine Spezies durch die Bedingungen ihrer Umwelt einfach nicht mehr lebens- und fortpflanzungsfähig ist, dann greift die Selektion, dann stirbt sie einfach aus. Was vor etwa 60 Millionen Jahren den Dinosauriern widerfuhr, droht jetzt dem guten alten Drahtesel, was besonders am Beispiel Lübeck zu beobachten ist.

Wie dessen Umwelt hier zur Zeit aussieht, kann man auf die Formel „30 Meter – 20 Beläge“ bringen: Will heißen: Die Radwege sind ca. alle ein bis zwei Meter mit einem anderen Material geflickt; grober Teer, feiner Teer, gerne auch mal Gehwegplatten oder es gibt einfach nur Sandlöcher. Bei all den Belägen wurde akribisch darauf geachtet, dass an den Übergängen stets drei bis fünf Zentimeter Höhenunterschied besteht, sodass es dem Esel ordentlich im Drahtskelett kracht. Bei Straßeneinmündungen ist der Bordstein zwar abgeflacht, aber bitte nie unter sieben Zentimetern! Hier rummst es ab zehn Kilometer pro Stunde so richtig.

Stark zu leiden haben die armen Kreaturen jedoch vor allem durch Höhenunterschiede zwischen Rad- und Gehwegen, was natürlich zu schweren Stürzen mit gefährlichen Brüchen geführt hat. Da dieser Höhenunterschied in der Roeckstraße am Ende geschätzt einen guten Meter betragen hat und Stürze den sicheren sofortigen Tod bedeutet haben, wurden großzügiger Weise auf dem guten, glatten Straßenbelag Drahteselspuren angelegt. Einziger Haken: Links und rechts Straße und Autos; ein völlig widernatürlicher Lebensraum und gerade im Winter unglaublich gefährlich.

Ja, haben sie denn so gar keinen Raum speziell für sich? Ja und nein! Es gibt da die sogenannte Fahrradstraße, vom Burgtor bis zur Mühlenstraße. Diese ist drahteselfreundlich mit dem holprigsten Kopfsteinpflaster der gesamten Stadt versehen. Alle fünf Jahre werden die Steine – weil sie ein wenig glattgefahren worden sind – durch neue halbrunde Köpfe ersetzt. Hat man vom Burgtor die Marienschule erreicht, fehlen dem Drahtesel bereits Dinge wie der Inhalt des Fahrradkorbs, der Reiter hat bereits massive Kopfschmerzen. Auf Höhe Johanneum sind sämtliche Teile wie Klingel, Reflektoren und Tachos nicht mehr an Bord. Ist der Reiter Brillenträger, so sind hier beide Gläser herausgeflogen, und spätestens beim Erreichen der Mühlenstraße hat man um die drei, vier ältere Zahnkronen lose im Mund. Der Drahtesel selbst kann ab Aegidienkirche wegen weiterer Teileverluste dann nur noch geschoben oder getragen werden.

Eine Spezies, die so schlecht an ihre natürlichen Umweltbedingungen angepasst ist, ja, die stirbt natürlich aus. Das wissen wir spätestens seit Charles Darwin.

Helen Lehnau, Q2e, die im Rahmen des Deutschunterrichts diese Glosse verfasst hat.