Infiziert.

Vom Krankenhaus ins Internet, von China in die Welt – in unter einer Sekunde: Corona und das Wort viral. Lieve Münte hat sich Gedanken über unseren Wortgebrauch und unsere Aufmerksamkeit gemacht.

Acht Uhr morgens. Einen Kaffee, ein Croissant und das Online-Nachrichtenportal auf dem Handy zum Frühstück. Das erste von ungefähr achtzig Malen, dass das Handy an diesem Tag entsperrt wird – bei acht Stunden Schlaf also im Durchschnitt alle zwölf Minuten. Ein Klick, ein Wischen, unbegrenzter Zugang zu Information. Schlagzeile um Schlagzeile, der Großteil klingt wie ein zu vertuschen versuchter Fall von Copy and Paste: Corona, Coronavirus, Coronavirus-Epidemie – ein chinesisches Virus geht viral.

Dreitausendsiebenhundert Neuinfizierungen in China und zwei Millionen Suchanfragen in Deutschland binnen eines Tages. Dort ein gefährlicher Erreger, der für lahmgelegte Millionenstädte und Ausnahmezustände sorgt. Hier beinah sowas wie ein Trend, ein Muss and Information – doch keinesfalls ein Ausnahmezustand: Das Wort viral und alles, was an ihm dranhängt, sind präsent und vorherrschend wie nie.

Wer es heute benutzt, der tut es in den wenigsten Fällen in Zusammenhang mit einer durch einen Virus verursachten Infektion, stattdessen aber in Verbindung mit Schlagzeilen, kurzen Videoclips oder Bildern. Und das nicht zu knapp. Der praktisch uneingeschränkte Zugang zum Internet hat zur Folge, dass die Ausbreitung verschiedenster Inhalte in unfassbarer Geschwindigkeit erfolgt, in Anlehnung an die eigentliche, medizinische Bedeutung des Wortes viral wie die eines Virus‘. Es sind allerdings nicht länger nur die Inhalte, die sich viral verbreiten, sondern mittlerweile hat auch das Wort selbst eine Art viralen Status, denn ihm ist kaum noch zu entgehen. Wie die Bedeutung des Internets und sozialer Medien hat auch die Häufigkeit des Auftretens des Wortes viral im alltäglichen Sprachgebrauch ununterbrochen zugenommen. Verwendet als eine Beschreibung von etwas Beliebtem, da meist Interessantem, Lustigem oder auch Erschreckendem, funktioniert viral neben dem Ausdruck für etwas weit und schnell Verbreitetes gleichermaßen als positiv wertendes Adjektiv und Adverb, fern ab von seiner ursprünglichen Bedeutung. Das weitere Abrücken von Letzterer passiert in einer Spirale, deren immer enger werdenden Windungen das Ergebnis des hohen Takts sind, in dem das Prinzip viral gehender Inhalte zweifellos funktioniert.

Die Frage ist vielleicht nicht, ob wir diesen Takt, den das Virale uns vorgibt, durch die stetige Beschäftigung mit und die sprachliche Verwendung von ihm mitgehen können. Denn mit sieben Stunden Medienkonsum pro Tag und in Zeiten, in denen einer der mächtigsten Männer der Welt lieber twittert, als zu regieren, ist es längst normal, in den Medien in dieser Geschwindigkeit zu leben. Doch die Frage sollte mit Sicherheit lauten, ob wir diesen Takt mitgehen wollen.

Über zwei Millionen Suchanfragen an einem Tag, doch schon am nächsten Tag ist das Coronavirus den Statistiken der Google-Suchanfragen zufolge nicht einmal mehr halb so interessant wie die neue Staffel Germany’s Next Topmodel. Virales kommt in immer höheren, immer schneller aufeinanderfolgenden Wellen. Man wird von ihrer Wucht mitgerissen und von der Fülle an Informationen überschwemmt. Gleichzeitig läuft man aber dennoch immer irgendwie hinterher, denn bevor die eine Welle bricht, haben sich Wassermassen längst zu einer neuen gebildet.

Doch was passiert, wenn durch den extremen Medienkonsum die Schnelllebigkeit dieser viralen Informationswellen immer mehr gesteigert wird? Und was bleibt, wenn die Wellen brechen, uninteressant werden? Das ist das Fatale, was das kleine Wörtchen viral heutzutage bedeutet: Erst ein Hype, der zwar für extremes, aber gleichzeitig auch extrem kurzes Interesse sorgt; angetrieben durch den Zwang, immer auf dem neuesten Stand sein zu müssen, nicht jedoch durch ehrliche Beteiligung und den Willen, zu etwas beizutragen. Eine Eigendynamik dessen, was hinter dem Begriff des Viralen unweigerlich folgt und seinen Motor in der eigenen überfrequentierten Verwendung findet. Und nach dem Hype das Brechen am Strand des in Vergessenheit Geratens.

Das Ergebnis ist eine Gesellschaft, in der es nicht um echte Emotion und Teilnahme geht, sondern vielmehr um das krampfhafte Mithalten, darum, immer alles lustig zu finden, was andere lustig finden, immer alles zu wissen, was andere wissen – denn schließlich ist es ja viral gegangen und das steht für sich allein. Eine Gesellschaft, in der das Maß an medialer Verbreitung vor allem in jüngeren Generationen ein ernsthaftes Kriterium geworden ist, ist eine Gesellschaft, in der ein enormer Druck ausgeübt wird. Er mag zwar zu großen Teilen ein unterschwelliger Druck sein, die Folgen jedoch sind – vielleicht auch gerade deshalb – keineswegs zu unterschätzen.

Die momentan zu beobachtende Entwicklung führt zu einer Form des Zusammenlebens, in der die viel diskutierte und mit Sicherheit zurecht kritisierte leistungsorientierte Gesellschaft noch immer vorhanden ist, Leistung jedoch mehr und mehr mit medialer Präsens und Beliebtheit gleichgesetzt wird. Der Stellenwert, den das Wort viral durch seine positive Konnotation innehat, ist in dieser Entwicklung ein wichtiger Faktor: Es ist ein Stempel, der einem durch eine hohe Anzahl an Likes binnen kurzer Zeit aufgedrückt wird und wird so zu einem Anhaltspunkt, über den Nutzer sozialer Medien sich definiere. Doch die Tinte des viralen Stempels zeichnet sich durch eine kurze Lebensdauer aus. Das Resultat? Ein erschreckendes Machtpotential, das von dem Wort viral ausgeht.

Zu spüren bekommen es auf der einen Seite diejenigen, die immer in der Pflicht stehen, neue Inhalte zu produzieren – gut, lustig, interessant oder erschreckend genug, um abgestempelt zu werden. Und auf der anderen Seite diejenigen, die immer up-to-date sein müssen, alles schon gesehen, „geliket“ und „repostet“ haben müssen. Aufgrund dessen haben sowohl die positive Konnotation von viral als auch das damit einhergehende, immer stärker ausgeprägte Gefühl einer Verpflichtung zur Teilhabe, zu Wissen oder zur Zustimmung einen großen Effekt auf insbesondere junge Generationen.

Dieser beläuft sich in erster Linie auf einen Meinungsfall innerhalb einer bestimmten Altersgruppe. Warum sich eine eigene Meinung bilden, wenn man doch ganz einfach die durch viral Gegangenes vorgegebene übernehmen kann? Und nicht nur das; die wertende Wahrnehmung des Wortes viral nimmt einen Wirkungsgrad an, der die Bildung einer eigenen Meinung nicht nur durch den Druck der Massen in Form explosionsartiger Anzahlen an Likes erschwert, sondern sie darüber hinaus zunehmend unwichtig oder gar unerwünscht erscheinen lässt.

Die Gefahr, die das kleine Wort viral darstellt, wird zudem noch durch den allgemeinen Sprachwandel angeheizt: Es wird zwar noch immer in seinem ursprünglichen, medizinischen Sinn verwendet, doch nichtsdestotrotz ist die Übertragung der ein Virus betreffenden Fachvokabel auf Ausbreitung und Bekanntheit im Internet längst in der Gesellschaft akzeptiert, mehr noch, zur Selbstverständlichkeit geworden. Eine Selbstverständlichkeit, die auf Basis des stetig zunehmenden Medienkonsums eine gesellschaftliche Relevanz hat: Ein simples Wort, welches durch die Entlehnung seiner eigentlich negativen, gar bedrohlichen Bedeutung im ersten Schritt bezüglich seiner Wahrnehmung eine gehörige Entwicklung hinter sich hat. Der zweite Schritt – die immer häufigere Verwendung und Intensivierung seiner positiven Bedeutung – hat zur Folge, dass aus dem simplen Wort mittlerweile ein Indikator für die Lustigkeit eines Videos, die Beliebtheit einer Person oder die Wichtigkeit einer Information geworden ist.

Es ergibt sich das Bild einer leistungs- und erfolgsorientierten Gesellschaft, in der ein einziges Wort durch seinen ihm mit Hilfe des Sprachwandels verliehenen wertenden Stempel einen immensen Stellenwert hat. Dieser kann, in Verbindung mit den spezifischen Inhalten, fast schon propagandaartige Ausmaße annehmen. Ein Wort als Äquivalent für Bekanntheit, die mit Erfolg gleichgesetzt wird, fungiert als Motor der allgemein verbreiteten Meinungen.

Die Bezeichnung eines Inhalts als viral gegangen infiziert dadurch mit Blindheit. Zwar lassen sich mit Hilfe des Internets 1,3 Milliarden Suchergebnisse in weniger als einer halben Sekunde zu nur einem einzigen Virus finden, doch das, was bereits am meisten geklickt und gelesen wurde, wird als relevanteste Informationsquelle verbucht, nicht als bloß eine von 1,3 Milliarden. Ganz nach dem Prinzip dessen, der am lautesten schreit. Doch nur weil auf den ersten Blick nur einer zu hören zu sein scheint, heißt das noch lange nicht, dass nicht auch andere etwas zu sagen haben, dass es zu hören wert wäre.

Es lohnt sich, mal ein kleines bisschen die Ohren zu spitzen, um über den viralen Tellerrand hinauszuhören. Vielleicht ist eine solche Impfung gegen die virale Blindheit nicht angenehm, aber um der eigenen, reflektierten Meinungsbildung ebenso wie um der Zukunft unser aller Gesellschaft Willen zweifelsohne notwendig.

Lieve Münte, Q1a