„Miteinander schwingen“

Das ist das, was eine gute Lesung für den professionellen Vorleser und Schauspieler Rainer Rudloff ausmacht. Zu erleben, wie die Schwingung aus dem Publikum zurückkommt, alle zusammen die Geschichte erleben, wie in einem geschützten Raum, das ist etwas sehr Besonderes. Am 4. Mai konnten auch über hundert Schüler*innen des Johanneums eine solche Lesung miterleben. Zwar nicht in der Aula, aber über ein Webex-Meeting. Das klappte erstaunlich gut und alle konnten in seinen Bann und in die Geschichte von Maik und Tschick gezogen werden. Den zwei Jungen, die in ihrer Reise quer durch Deutschland mit einem geklauten Lada viel erleben.
Die Szenen aus dem Buch „Tschick“, die er bei seinen Lesungen herausgesucht hat, hat er bestimmt schon hundert Mal gelesen, erzählt Rainer Rudloff, das Buch selber vielleicht vier Mal. Sein ältester Sohn hatte ihn damals auf das Buch von Wolfgang Herrndorf hingewiesen und meinte: „Papa, das musst du mal lesen!“ Am besten solle er bei einer Lesung mit den ersten Kapiteln einsteigen, doch wie Rudloff nach dem ersten Lesen merkte, ließ sich das durch die Heftigkeit des Anfangs nicht machen. Auch käme oft das Feedback, dass es so schade sei, dass Isa nicht in den ausgewählten Szenen vorkommen würde, doch andere Stellen aus dem Buch würden es besser widerspiegeln. Wie zum Beispiel in der Szene mit Friedemann und seiner Familie, die Rudloff an das Ende seiner Lesung geheftet hat, in der so viel Lebensfreundlichkeit gezeigt wird. „Das ist das, was mich an dem Buch so sehr berührt. Wenn der kleine Jonas fragt: „Das hätt` ich doch gewusst?“, und seine Mutter ihm liebevoll über den Kopf streicht und meint, er hätte es ganz sicher gewusst.“, erzählt er, „diese Freundlichkeit und Zugewandheit, das ist das, was mich an dem Buch so sehr angesprochen hat.“ Als 14-Jähriger sei man manchmal von so vielen Klischees geprägt, das würde einem dann helfen, sich abzugrenzen, aber Maik sei auch so offen für Neues und genau das lebt er mit Tschick in dem Buch aus und das ist auch etwas, was das Buch so auszeichnet! Denn Maik ist eigentlich so unglücklich mit all den Klischees und das komplette Buch verwirft genau diese im Laufe der Reise. Auf die Frage, ob er einen Lieblingscharakter hätte, antwortet Rainer Rudloff erst zögerlich, doch antwortet dann, dass es eigentlich wichtig sei, um ein Buch lebendig lesen zu können, alle gleich zu mögen, aber dass man auch eine klare Vorstellung davon haben sollte, welche Einstellung man zu den Figuren hat, um mit einer gewissen innerlichen Haltung zu der Rolle vorzutragen. Tschick macht ihm am meisten Spaß vorzulesen, mit diesem russischen Akzent, vor allem aber, wenn er das Buch komplett liest, weil da so viele verschiedene Fassetten über ihn auftauchen würden. Bei vielen Textpassagen sei er aber auch schon so eingeschliffen, dass er sie bereits auswendig „vorlesen“ könne, was ihm bei einer Kamera zugute kommen würde. „So entsteht eine bessere Bindung zu dem Publikum, wenn ich sie direkt angucke“, erläutert er. Auf der Bühne sei das etwas anderes, da habe er auch viel mehr Spielraum, deshalb war er am Montag auch sehr froh, mit dem Buch so geübt zu sein. Aber auch Friedemann sei ein toller Charakter zum Vorlesen gewesen, denn das sei etwas ganz Besonderes, wenn jemand eine Behinderung habe, aber eben nur in ganz bestimmten Bereichen, denn „Friedemann hat es ja total drauf!“. Um auch solche Rollen verkörpern zu können, habe er sich ganz viel das Verhalten von Menschen angesehen, wie sie reden, stehen, gehen, wenn sie bestimmte Gefühle haben. Schwierig sei es dann vor allem, wenn jemand eigentlich traurig ist, aber so tut, als sei er glücklich. Das widerzuspiegeln sei interessant, aber anspruchsvoll. Am besten, bemerkte Rudloff im Laufe der Jahre, könne er Angst, eine abgrundtiefe Furcht, ein Grauen, vorlesen, auch Wut ginge gut, dass solle ja in die Öffentlichkeit, das gehöre auf die Bühne! Im Gegensatz zu der Zärtlichkeit und dem Verliebtsein, denn das seien Gefühle, die eben nicht auf die Bühne gehörten und deshalb dort schwierig widerzuspiegeln seien.

Doch wie kann man selber üben, lebendig zu lesen? Die Antwort kommt prompt: „Tierlaute nachmachen!“ Im Zoo sei er dabei manchmal mit Tieren in Kontakt getreten, einmal habe ein Pfau sogar ein Rad geschlagen, weil er Konkurrenz vermutete. Denn da würden sich die Tiere nicht zurücknehmen und genau das solle man lernen. Auch zu lernen, was Ursprung bedeute, denn das verschriftlichte „I-Ah“ vom Esel kann nur hinken, das würde mit der Seele des Tieres und seinen Urinstinkten zusammenhängen, das könne man gar nicht in Worte fassen, das könne man nur nachahmen. Die Sprache würde ihn schon seitdem er klein ist, faszinieren. „Englisch habe ich nur studiert, weil ich die Sprache Tolkiens so toll fand“, sagt der Schauspieler. Für Viele sei es auch ein Problem, Gefühle in Worte zu fassen, wie schwierig sei es dann, das Ganze andersherum zu machen? Daher seien es Übung und Lebenserfahrung, die Lesungen lebendig und gefühlvoll machen, die einen mitschwingen lassen!
Doch wie kürzt man ein Buch vor einer Lesung eigentlich? Erst liest man das Buch einmal ganz genau, um ein Gefühl für die Geschichte zu bekommen, beim zweiten Mal schon analytischer und beim dritten Mal entscheidet man sich dann für Szenen, die in die Lesung sollen. Dabei merkt man auch, wie man Charaktere lesen möchte. Dabei konnte er sich vor allem mit Maik identifizieren.
Rainer Rudloff hat um die 180-200 Lesungen im Jahr und am Montag durften wir an einer davon teilhaben und darüber sind wir sehr dankbar, genauso danken wir dem Förderverein, der uns das alles ermöglicht hat!

Und wer jetzt nicht mitgekommen ist, weil er das Buch noch nicht gelesen hat – ab in den Buchladen und lesen, ich kann es nur empfehlen!

Text und Fotos: Josefin Greve, 8d