Wofür brauchen wir die Schule?

Abiturientenfeier Johanneum, 25.6.2022

Liebe Abiturientinnen, liebe Abiturienten, lieber Herr Dr. Janneck, liebe Mitglieder des Lehrkörpers, liebe Familien und Freunde,

zunächst möchte ich mich im Namen meiner ehemaligen Klassenkameraden bei der Schulleitung für die Einladung zur Abiturientenfeier des Jahrgangs 1962 ganz herzlich bedanken. Wir – das sind fast die Hälfte unserer Klasse – sind sehr gern gekommen, fühlen wir uns doch mit unserer Schule auch nach so langer Zeit immer noch verbunden.

Da ich nun einmal hier bin, möchte ich einen Gedanken loswerden.

Brauchen wir noch die Schule in ihrer derzeitigen Form? Für die Fremdsprachen gibt es simultane Übersetzungsprogramme, der Computer löst alle Mathematikaufgaben, Fragen zur Geschichte und naturwissenschaftlichen Fächern beantwortet Google.  Brauchen wir also noch unsere derzeitige Schulform?

Ich meine, wir brauchen die Schule in seiner jetzigen Form mehr denn je. Im Privatleben bekommen die Social Media einen immer größeren Stellenwert. Sie beeinflussen schon heute viele unserer privaten Entscheidungen wie z.B. bei der Partner- und Berufswahl aber auch im Berufsleben. Dabei werden Computer mit Daten gefüttert und Algorithmen machen Vorschläge oder treffen schon heute Entscheidungen, wie z.B. im Aktienhandel. Vieles ist hilfreich, aber es nimmt uns auch die eigene Kreativität, die eigene Initiativen.

Während unserer Schulausbildung haben wir viel Wissen in den verschiedenen Fächern erworben, aber wir haben das Wissen ja nicht einfach konsumiert, wir haben untereinander und mit den Lehrern diskutiert, wir haben eigene Meinungen entwickelt, waren kreativ in Aufsätzen, in der Mathematik und besonders in den musischen Fächern. Wir haben soziales und kulturelles Leben praktiziert und die Schule war unsere „2. Heimat“. Wie ich gelernt habe, trifft das für die Ausbildung am Johanneum auch heute noch zu, denke ich auch an die musikalische Schwerpunksetzung. Ich hoffe, dass diese Ausbildungsform auch in Zukunft weiter praktiziert wird.

Warum bin ich nach über 60 Jahren wieder an das Johanneum zurückgekehrt? Weil mich noch immer viel mit dieser Schule verbindet: ich kenne noch die Namen von den meisten meiner Lehrer, erinnere mich an Highlights (Lapplandfahrt mit unserem Klassenlehrer Herrn Wäsche), an den damaligen Referendar Herrn Bode, der uns Französisch derart nahe brachte, dass einige von uns diese Sprache freiwillig ein Jahr länger lernten, meinen Kunstlehrer Herrn Paege, der mir Ratschläge für die Anfertigung einer Prüfungsmappe für die Aufnahmeprüfung für ein Architekturstudium gegeben hat und Besuche bei unserem Klassenlehrer, der an einigen Abenden mit uns in seiner Wohnung im kleinen Kreis über Parapsychologie diskutierte; das alles und vieles mehr hat mich auch geprägt. Schule ist also keine reine Lehranstalt, sondern auch eine kulturelle Einrichtung. Das leistet in der Regel ein Studium oder eine Ausbildung nicht.

In ihrem zukünftigen Berufsleben werden Sie in den meisten Fällen das in der Ausbildung oder Studium erworbene Wissen vielleicht nur zu etwa einem Drittel anwenden, ebenso wichtig sind Sozialverhalten und Kreativität.

Und zum Schluss noch eine Erfahrung aus meinem reichen Erfahrungsschatz, das darf heute nicht fehlen: wenn mal etwas nicht so abläuft, wie sie es sich gewünscht haben, der Freund, die Freundin Sie verlässt, eine Bewerbung abgelehnt wird, dann denken Sie an den Spruch, der mir in meinem Leben des Öfteren half und sich häufig bewahrheitete:

Wer weiß, wozu das gut war!

Bleiben Sie neugierig und kreativ!

Ich wünsche Ihnen liebe Abiturientinnen und Abiturienten auch im Namen meiner ehemaligen Klassenkameraden aus tiefsten Herzen alles erdenkliche Gute für ihre Zukunft.

Rainer Stegmann