Wenn Grenzen fallen

Als ich am 9. November 1989 zur Schule ging, sprachen wir darüber, dass dies durch die Pogromnacht 1938 einer der dunkelsten Tage in der deutschen Geschichte sei. Am nächsten Tag war klar, dass der 9. November auch zu einem hellen Tag wurde: Das Licht der Kerzen bei den friedlichen Demonstrationen in der DDR hatte sich durchgesetzt und die Trennung wurde überwunden. In Ratzeburg erlebte ich die umwälzenden Ereignisse ganz nah mit.

Die Nachricht von der Grenzöffnung wurde am späten Abend des 9. November veröffentlicht. Als ich am 10. November morgens zur Schule kam, gab es keinen Unterricht. Die ganze Schulgemeinschaft stand in der Pausenhalle, in die ein Fernsehwagen geschoben worden war, auf dem alle gemeinsam verfolgten, wie die Menschen in der Nacht auf die Berliner Mauer geklettert waren und gemeinsam feierten. Zum ersten Mal in meinem Leben wurde mir bewusst, dass gerade ein absolut historisches Ereignis stattfand.

Erst ein Jahr zuvor war ich mit meiner Familie von Hamburg aus nach Ratzeburg gezogen und fand es befremdlich, so nah an einer unübersehbaren Grenze zu leben. Bis dahin hatte ich von der DDR nur eine ausgesprochen diffuse Vorstellung gehabt. Paris oder Kopenhagen waren leichter zu erreichen als Wismar oder Schwerin. Während meiner Kindheit besuchten meine Eltern regelmäßig eine Partnergemeinde in Bad Doberan, eigentlich nur eine gute Autostunde entfernt. Doch aufgrund der Grenzkontrollen dauerte es oft viele Stunden, bis sie wieder nach Hause kamen. Was sie dabei erlebt hatten, besprachen sie nicht vor uns Kindern.

Nach dem Umzug nach Ratzeburg fand ich es großartig, direkt an einem See zu wohnen und dort mit dem Schlauchboot oder auch mit Freunden beim Segeln unterwegs zu sein. Schnell lernte ich jedoch, dass man im nördlichen Teil des Sees, nach Lübeck hin, auf dem Wasser auf keinen Fall zu weit nach Osten gelangen durfte. Die Grenze verlief ja mitten durch den See. Genauso war es beim Mechower See, an dem wir gern spazieren gingen. Das andere Ufer war unerreichbar. Stacheldrahtzäune standen hinter blühenden Knicks. Dass es lebensgefährlich war, auch nur einen Schritt zu weit zu gehen, konnten wir nicht übersehen.

Am 12. November wurde der Grenzübergang in Mustin, nur wenige Kilometer von Ratzeburg entfernt, geöffnet, und hunderte Menschen aus Mecklenburg kamen in unsere kleine Stadt. Wir Oberstufenschüler:innen erhielten spontan schulfrei, um angesichts des Verkehrschaos zu helfen. Also lotsten wir Menschen in „Trabbis“ zu den ausgewiesenen Parkplätzen, zeigten Wege zu Supermärkten und waren einfach ansprechbar. Ratzeburg explodierte vor Freude und Zusammenhalt.

Als kurz vor Weihnachten auch der alte Verbindungsweg in Wietingsbek, am Ufer des Mechower Sees, geöffnet wurde, gingen Menschen von beiden Seiten aus aufeinander zu und sangen Weihnachtslieder. Für mich als Jugendliche war es unfassbar eindrücklich, diese Begegnung mitzuerleben.

Noch immer empfinde ich Freude, wenn ich mit dem Fahrrad den Ratzeburger See umrunde oder von Groß Sarau aus auf das andere Ufer schaue, an dem keine Zäune mehr stehen.

Der 9. November 1938 darf sich nie wiederholen. Aber auch den 9. November 1989 sollten wir nicht vergessen.

Inken Christiansen

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