Gut geschlafen?
„Was sollen wir bloß tun?“, seufzte die Königin. Die Eltern des Kindes wussten einfach nicht weiter. Sie ließen Boten im ganzen Land nach Menschen suchen, die ihre Ideen beisteuern konnten. Doch keiner wusste Rat, bis die Boten an ein Haus kamen, das sie noch nie gesehen hatten. Es war klein und schief. Der Putz blätterte von den Wänden ab, der Garten war sehr ungepflegt, die Fenster waren mit Spinnweben überzogen, und doch schien das Häuschen bewohnt zu sein. Die Boten klopften an die Tür. Sie warteten geduldig und schließlich öffnete sich die Tür und vor ihnen stand eine runzelige alte Frau mit einem liebenswerten Lächeln auf dem Gesicht. Die Boten begutachteten sie und ließen sich dabei ausgiebig Zeit. Die Frau bemerkte das und sagte: „Nein, ich bin keine Hexe.“ Die Boten schreckten zurück. Konnte diese Frau etwa… „Ja, ich kann wirklich Gedanken lesen. Trotzdem könnt Ihr einfach mit mir reden. Ich habe nichts gegen Gesellschaft.“, sagte die Frau. Der oberste Bote traute sich und fragte: „Sie können wahrhaftig Gedanken lesen? Warum haben wir Sie noch nie hier gesehen?“ „Ich bin nur vorübergehend hier. Ich reise um die Welt. Mein Name ist Frandala und ich habe eine Idee, was wir für die kleine Prinzessin tun können.“
Wenige Stunden danach wurde Frandala in das Schloss gerufen. Vor der Königsfamilie erzählte sie von einem weisen Wesen, das in den Tiefen der Ewig-Schluchten lebte. Es konnte einem jede Frage beantworten und sogar zu jeder Antwort eine Frage finden. Das Wesen nannte man Orktos. Man konnte es weder sehen noch hören. Trotzdem merkte man, wenn es da war. Es löste etwas im Herzen aus, was niemand beschreiben konnte. Orktos konnte man auch nicht anfassen, man fand ihn auch nur sehr selten. Auch wenn er nicht sprechen konnte, fühlte man seine Worte. Man nahm sie wahr, ohne zu wissen, wie. Allerdings konnte man nie genau sagen, wo sich die Ewig-Schluchten befanden. Sie änderten sozusagen ihren Standort. Nur eine Sache änderte sich nicht: Wenn man zu ihnen kommen wollte, musste man drei andere Orte überqueren, die sich aber immer änderten.
Als Frandala mit ihrer Erzählung geendet hatte, herrschte erstmal Stillschweigen. Diese Idee war einfach grandios, doch auch gefährlich. Schließlich sagte der König: „Wir nehmen Ihre Idee an. Die Königin und ich werden uns auf den Weg machen und das Wesen finden, um unsere geliebte Tochter zu heilen.“ Die Königin stimmte zu, alles war abgemacht, am nächsten Tag wollten sie aufbrechen. „Ich komme mit!“, erklang es auf einmal. Schlafittchen kam hinter der Tür zum Vorschein. „Ich will auch zu dem Wesen.“, sagte sie. Ihre Eltern schauten sich an. Wäre das nicht sehr gefährlich für so ein kleines Kind? Frandala ergriff wieder das Wort: „Es könnte sehr nützlich sein, wenn die Prinzessin mitkommt. Überlegen Sie es sich gut, ob Sie das Mädchen nicht vielleicht doch mitnehmen.“ Dann stand sie auf und verließ das Schloss. Die Königin und der König dachten lange darüber nach. Schließlich sagten sie zu. Sie vertrauten auf die weisen Worte von Frandala.
In der Nacht konnte Schlafittchen, wie immer, nicht schlafen. Lange blieb sie wach. Am nächsten Morgen war sie sehr müde, doch sie musste wach bleiben, da sich die Königsfamilie nun auf den Weg in die Ewig-Schluchten machte. Dank ihres Gefühls wussten sie genau, wo sie langgehen mussten.
Als erstes liefen sie stundenlang durch die Endlose Wüste. Es kam ihnen vor, als würden sie immer an den gleichen Stellen vorbeilaufen. Schlafittchen war so unglaublich müde, dass sie sich setzen musste. Die drei machten oft Pausen. Alles, ihre ganze Umgebung, blieb gleich und öde. Langsam wünschte sich die Königstochter, zu Hause geblieben zu sein, doch nun konnte sie nicht mehr umkehren. Sie waren schon zu weit gelaufen. Dass es in ihrer Umgebung so still war, war sehr ungewöhnlich. Normalerweise sprangen hier die Geschöpfe nur so herum. Doch heute regte sich kein Sandkorn. Auf einmal blieben sie stehen. Vor der Königsfamilie ragte ein riesiges Wesen aus Stein aus dem Boden. Deswegen waren hier keine Tiere, denn das größte, mächtigste und gefährlichste Wesen hatte sie verjagt: die Sphinx, ein schreckliches Geschöpf, das andere Lebewesen auffraß, wenn sie nicht sein schwieriges Rätsel lösten. Man konnte ihr nicht entkommen, soviel war sicher. Die drei Menschen starrten regungslos auf das riesige Wesen. Auf einmal sprach es: „Löset mein Rätsel, dann seid Ihr frei.“ Fast unmerklich nickten die drei mit ihren Köpfen. „Das Rätsel lautet: Was läuft am Morgen auf vier Beinen, am Mittag auf zwei Beinen und am Abend auf drei Beinen?“, sprach die Sphinx. Die Königsfamilie dachte angestrengt nach. Was konnte bloß damit gemeint sein. Sie mussten es herausfinden, und zwar schnell! Sonst würden sie als Sphinx-Futter enden, und das wollten sie auf keinen Fall. Auf einmal rief Schlafittchen: „Ich hab´s! Das ist doch ganz klar: Mit dem Rätsel ist der Mensch gemeint! Am Morgen ist er ein Baby und krabbelt auf vier Beinen. Am Mittag ist er ausgewachsen und läuft auf zwei Beinen. Und am Abend ist er alt und läuft auf zwei Beinen plus Gehstock, das sind drei Beine!“ Die Sphinx wirkte sichtlich beeindruckt und wütend, denn noch nie hatte jemand das Rätsel gelöst. Verärgert flog sie weg und die Königsfamilie konnte endlich weitergehen. Alle waren stolz auf Schlafittchen, sie hatte sie gerettet. Schließlich hatten sie die Wüste endlich durchquert.
Der zweite Ort, den sie durchquerten, war ein Wald, aber kein gewöhnlicher, sondern der Traumwald. Dies war ein wunderschöner Wald, in dem jeder Baum ganz anders aussah als ein anderer. Der eine war riesig, der andere war winzig klein. Der nächste war grün, und der daneben blau! Einige Bäume hatten Nadeln, andere Blätter. Es war ein riesiges Farbenmeer, in das jeder gerne eintauchte, so auch der König, die Königin und die Prinzessin des Schlummerlandes. Einige Bäume hatten witzige Formen, andere waren ganz gerade. Schlafittchen liebte sie alle. Es war so viel Natur! Sie kletterte von Baum zu Baum und freute sich über jedes Baumes Existenz. Auch ihre Eltern spürten die Kraft, die von den Bäumen ausging. Sie liefen und kletterten, bis sie etwas Merkwürdiges wahrnahmen. All die Tiere, die hier herumliefen, blieben stehen. Sie schauten alle in dieselbe Richtung, auch die Königsfamilie folgte dem Blick. Stille trat ein. Sogar die Bäume schienen ihre Wipfel in dieselbe Richtung zu strecken. Schlafittchen und ihre Eltern liefen langsam der Richtung entgegen. Vor ihnen wurde es immer heller. Das Licht wurde größer und größer und die Familie folgte ihm. Plötzlich blieben sie stehen, das Licht schien von einem einzigen Baum auszugehen. Er war größer, breiter und noch fantastischer als all die anderen Bäume. Schlafittchen näherte sich dem Baum. Er war gigantisch, und an seinen unzähligen Ästen und Zweigen wuchsen wunderschöne Knospen. Schlafittchen begann langsam, auf den leuchtenden Baum zu klettern. Sie wollte zu einer bestimmten Knospe. Sie wusste nicht, wie sie aussah, aber das Mädchen spürte, wo es hin klettern musste. Sein Gefühl leitete es und als Schlafittchen vor einer riesigen Knospe angelangt war, wusste sie, dass sie hier richtig war. Ohne zu wissen, was sie tat, legte sie ihr Ohr an die Blüte und entspannte sich. Sie spürte, wie sich die Blüte öffnete, aber sie zog nicht den Kopf zurück, um zu sehen, wie sie aussah. Schlafittchen schloss die Augen und horchte. Von der Blüte schienen leise, unbeschreibliche Töne auszugehen. Die Blume spielte eine Melodie, eine schöne, traurige Melodie. Sie kam ihr bekannt vor, und doch hatte sie sie noch nie gehört. Die Melodie formte Worte im Herzen der Prinzessin, ohne dass gesungen wurde. Schlafittchen liebte diese Melodie und behielt sie in ihrem Herzen. Nun wusste die Königstochter, was sie tun musste. Sie zog ihren Kopf von der Blüte weg und erblickte ihre Schönheit. Die Blume strahlte in allen Farben. Das Mädchen kletterte vom Baum hinunter und sagte zu seinen Eltern: „Das ist der Wunschbaum! Für jeden ist eine eigene Blüte angefertigt mit einer Melodie. Mir hat meine Blume gesagt, was wir tun müssen. Wir sollen ein Floß bauen und über den Schweigenden Fluss paddeln. Dieser Fluss trennt uns noch von Orktos, dem unsicht- und unhörbaren Wesen.“ Ihre Eltern waren abermals beeindruckt darüber, wie klug es gewesen war, ihre Tochter mitzunehmen auf die Reise.
Sie liefen, bis sie zum Ufer des Schweigenden Flusses kamen. Eine schreckliche Stille ging von dem Wasser aus, was der Familie das Gefühl gab, nichts sagen zu dürfen. Sie bauten ein Floß aus Ästen, die von den Bäumen herabgefallen waren und aus den Stämmen toter Bäume, die vom Blitz getroffen worden waren. Alles geschah lautlos. Jedes Geräusch wurde von der Macht des riesigen, schweigenden Flusses einfach ausgelöscht. Es war, als wäre man schlagartig gehörlos geworden.
Schlafittchen und ihre Eltern nahmen sich ihr Floß und legten es auf das schwarze Wasser. Nachdem dies geschehen war, blubberten riesige ekelerregende Blasen aus den Tiefen des Flusses. Die Familie beschloss lautlos, dass keiner von ihnen das Wasser berühren würde, es sah sehr gefährlich aus. Vorsichtig stiegen sie auf das Floß und schoben ebenso langsam und umsichtig ihre selbstgebauten Paddel in das schwarze Nass. Sehr, sehr langsam fingen sie zu paddeln an und kamen Stückchen für Stückchen voran. Sie wurden immer sicherer und schließlich hatten sie genau herausgefunden, wo und wann sie wie paddeln mussten. Die Familie entfernte sich immer weiter vom Traumwald und dem Wunschbaum, an dem nun die neue wunderschöne Blüte hing, die Schlafittchen geöffnet hatte.
Auf einmal schwappte ein wenig Wasser auf das Floß. Nur Schlafittchen schien es zu bemerken, denn ihre Eltern paddelten seelenruhig weiter, während sie entsetzt mit ansehen musste, wie sich das Wasser in das Floß einsog und schließlich die Ecke, wo das Wasser hin gespritzt hatte, zu winzigen Sägespänen wurde und abfiel. Nun war das Floß sichtlich kleiner und Schlafittchen musste weiter nach vorne rücken, um nicht in das Loch im Floß zu fallen. Immer mehr Wasser spritzte jedoch auf das Floß und die Königstochter versuchte verzweifelt, ihren Eltern die schlimme Neuigkeit mitzuteilen, doch ihre Worte wurden einfach vom Schweigenden Fluss verschluckt und sie brachte keinen einzigen Ton heraus. Mittlerweile waren sie bis zu der Hälfte des Flusses gepaddelt, allerdings fehlte jetzt auch schon die Hälfte des Floßes, da das Wasser immer mehr vom Holz auflöste. Inzwischen hatten Schlafittchens Eltern dies auch mitbekommen. Sie gerieten in Panik und versuchten, kein Wasser auf das Floß zu lassen, was die Lage nur verschlechterte, da sie das Floß so zum Schwanken brachten. Vor lauter Aufregung fielen auch noch die Paddel ins Wasser. Alle hatten Angst, auch vom Wasser aufgelöst zu werden und stellten sich auf die klitzekleine Ecke, die noch übrig war. Zu dritt war das sehr anstrengend, doch sie schafften es, nicht von dem Floß zu fallen. Allerdings würden sie bald elendig verhungern, wenn sie nicht etwas unternahmen. Sie hatten jedoch einfach keine Ideen. So standen sie dort bestimmt eine Stunde.
Auf einmal jedoch spürten sie eine merkwürdige Kraft, die sie nicht sehen, hören oder berühren konnten, sie war trotzdem da. Die Kraft war mächtig und groß und sie wollte den Dreien helfen. Sie ließ die Familie schweben, sogar fliegen. Aber nicht so, dass sie ihre Richtung selbst entscheiden konnten, nein, die Kraft führte sie. Es war, als würden sie vom Nichts getragen werden. Die mächtige Kraft ließ die drei erst herunter, als sie den Schweigenden Fluss schon lange hinter sich hatten und über riesigen schwarzen Abgründen schwebten. Als sie wieder festen Boden unter sich hatte, umarmte sich die Familie so sehr, dass allen ganz warm ums Herz wurde. Sie hatten es geschafft!
Schlafittchen rief: „Orktos! Du hast uns gerettet!“ Orktos war die Kraft, die die Familie gerettet hatte. Und nun standen sie dem wunderbaren und weisen Wesen wahrhaftig gegenüber. Die Königsfamilie war überglücklich und stolz. Sie waren bei Orktos in den Tiefen der Ewig-Schluchten, nachdem sie so viel durchgemacht hatten. Sie wussten nicht genau, wo sich Orktos gerade befand, aber er war um sie herum, das spürten sie. Es war genauso, wie Frandala gesagt hatte. Man konnte ihn nicht sehen, nicht hören und nicht anfassen, nur im Herzen spüren. Und Schlafittchen spürte, was Orktos ihr sagen wollte: „Höre auf Dein Herz.“ Die Prinzessin des Schlummerlandes dachte nach, doch sie kam nicht darauf, was er damit meinte. Ihre Eltern standen neben ihr, mit Tränen des Glücks in den Augen, da ihre Tochter nun geheilt werden konnte. Schlafittchen schaute tief in sich hinein.
Sie spürte Liebe. Sie liebte ihre Eltern, sie liebte die Natur und sie liebte sich selbst, so wie sie war.
Dann sprach sie leise: „Ich habe Euch so lieb, Mama und Papa.“ Und sie umarmte ihre beiden Eltern fest, und die beiden umarmten zurück. „Wir haben Dich auch so lieb! Ich hoffe, das weißt Du!“, sagte ihre Mutter. Und der König sagte: „Schlafittchen, Du bist der größte Schatz auf der ganzen Welt! Du bist so ein tolles Kind.“ Schlafittchen merkte, wie ihr selbst eine Freudenträne über das Gesicht rollte. Ihre Liebe zu ihren Eltern! Ihr war das nie so richtig klar gewesen. Darum hatte sie nie einschlafen können. Sie blieben noch lange so stehen. Es war, als würde Orktos sich auch dazu stellen und sie mit umarmen. Schließlich löste sich Schlafittchen aus der Umarmung und fragte ins Nichts hinein, dorthin wo sie Orktos jetzt gerade vermutete: „Wie sollen wir denn jetzt wieder nach Hause kommen, nach Schlummerland?“ Das war eine berechtigte Frage. Doch kurz danach hatte sie sich geklärt: Orktos ließ die Familie wieder hoch in die Lüfte schweben und bis nach Hause. Sie flogen über den Schweigenden Fluss, über den Traumwald und schließlich auch über die Endlose Wüste hinweg, bis sie nach ungefähr fünf Minuten über Schlummerland schwebten. Orktos ließ sie hinunter und alle Bewohner des Landes staunten nicht schlecht, als die Königsfamilie vor ihnen landete. Schlafittchen, die Königin und der König bedankten sich noch einmal herzlich bei Orktos und schließlich war das Wesen verschwunden, das spürten sie.
Frandala stand direkt vor ihnen, sie fragte: „Und? Wurde die Prinzessin geheilt?“ Die Prinzessin nickte und umarmte die alte Frau. Schließlich liefen die Königin, der König und die Prinzessin zum Schloss.
In dieser Nacht und in allen folgenden Nächten schlief Schlafittchen wunderbar ein und träumte von ihrer Reise bis zu den Ewig-Schluchten mit ihrer Familie. Sie liebten sich. Alles war wieder gut.
Selma Frahnow, 5b