Auf dem Weg in eine gerechtere Gesellschaft

Heute werden wir offiziell in eine Welt entlassen, in der es wichtig ist, Verantwortung zu übernehmen. Verantwortung dafür, dass zum Beispiel die großen gesellschaftlichen und globalen Ungerechtigkeiten bekämpft werden. Denn auch wenn Deutschland ein fortschrittliches Land ist, in dem Frauen seit 1958 im Grundgesetz nach Artikel 3 gleichberechtigt sind oder schwule und bisexuelle Männer seit diesem Jahr auch endlich Blut spenden dürfen, stoßen wir auch hier immer wieder auf solche Ungerechtigkeiten. Vielleicht fängt es im Kleinen damit an, wenn Personen die Erfahrung machen, dass das Wort „nein“ für manche leider noch immer ein Fremdwort zu sein scheint. Vielleicht geht es weiter, wenn künstliche Intelligenzen bald Bewerbungen aussortieren, weil die Hautfarbe, das Aussehen oder das Geschlecht in den Daten vorheriger Neuanstellungen kaum vertreten ist. Oder vielleicht wird es spätestens dann klar, wenn für fünf Millionäre in einem U-Boot eine weltweite Rettungsaktion stattfindet, während fast zeitgleich der Tod von mehr als 500 Flüchtlingen auf einem rostigen Schlepper beinahe achselzuckend hingenommen wird. Was für eine Doppelmoral!

Uns ist bewusst, wie gut es uns geht und wie viele Wege uns offenstehen. Uns ist ebenfalls bewusst, dass die Möglichkeit, eine so umfassende Schulbildung zu erhalten, trotz des fortschrittlichen Deutschlands leider keine Selbstverständlichkeit ist. Ganz im Gegenteil: Der familiäre Hintergrund, die Bildung und das Einkommen der Eltern stellen nach der neusten Studie des ifo-Instituts die maßgebenden Faktoren für die Bildung des Kindes dar. Dass diese Studie sich auch in unserem Jahrgang widerspiegelt, ist wohl leider nicht von der Hand zu weisen. Umso wichtiger erscheint es mir deshalb, sich reflektierend darüber im Klaren zu sein, dass es tatsächlich größere Probleme gibt als das fehlende zweite Outfit für den Abiball oder die unbequeme Zugverbindung von Paris nach Barcelona auf unseren Interrailreisen.

Ungerechtigkeiten waren schon lange vor unserem künftigen Berufsleben präsent und werden wohl nie ganz verschwinden, aber sie einfach stillschweigend hinzunehmen, ist meiner Meinung nach keine Option.

Obwohl ich um meine Privilegien weiß, habe auch ich mich vor einigen Wochen persönlich ungerecht behandelt gefühlt.

Der CDU-Politiker und ehemalige Innenminister Thomas De Maizière gab nämlich zum Auftakt des Kirchentages Mitte Juni eine nette Stellungnahme bezüglich unserer Generation, der Generation Z, ab: Ich weiß nun, dass ich „faul und egoistisch“ bin, außerdem bedingt durch die Corona-Pandemie unzuverlässig und sozial inkompetent. Gepaart mit meiner Medienabhängigkeit, macht mich dies wohl zu einem ziemlich hoffnungslosen Fall.

Ich frage mich, warum Thomas De Maizière seine Einflussmöglichkeit und Medienreichweite dafür nutzt, um stigmatisierende Aussagen über junge Menschen herauszuposaunen. Zudem würde mich interessieren, worauf er seine Thesen stützt, vor allem, wenn das eigene Wählerklientel überwiegend Rente bezieht. Doch da es heute um etwas anderes gehen soll, werde ich diesen Gedankengang nicht weiter vertiefen.

Zugegeben, ich war tatsächlich so frei und habe mich im Zuge der Kritik über unsere Generation ein wenig mit der Generation X beschäftigt, also die Personen, die in den mittleren 1960er bis in die frühen 1980er Jahre geboren wurden und hier im Publikum größtenteils vertreten sind. Erleichtert habe ich feststellen können, dass auch Sie alle scheinbar von Egoismus geprägt waren, dazu zählten Zynismus und Nihilismus zu ihren herausstechenden Eigenschaften. Begründet wird dies durch ihr Dasein als Schlüsselkinder und dem daraus resultierenden Gefühl der Verlorenheit. Das erklärt im Hinblick auf uns natürlich dann so einiges.

Allerdings möchte ich heute mein Augenmerk eben nicht auf die Schwächen, sondern auf die Kompetenzen meines Jahrgangs lenken. Ich meine, wenn wir eines in der Schulzeit gelernt haben, dann doch, dass man – anstatt blindlings auszuteilen – mit anderen in den Dialog tritt und dabei auch wirklich miteinander kommuniziert. Obendrein haben wir mittlerweile genug Erörterungen geschrieben, um überzeugend und strukturiert argumentieren zu können. Damit ich meine Faktenargumente aber auch wirklich handfest belegen kann, habe ich im Vorfeld eine – Vorsicht, digitale– Umfrage in unsere Jahrgangsgruppe gestellt und tatsächlich haben sich fast alle die Zeit eingeräumt und an dieser teilgenommen.

Also, sehr geehrter Herr De Maiziere,

Sie ärgern sich über unsere Einstellung gegenüber dem Arbeitsleben und haben uns Folgendes vorgeworfen: „Am siebten Tage sollst du ruhen, heißt es in der Bibel. Das bedeutet ein Verhältnis von sechs zu eins. Und nicht, dass die Freizeit überwiegt.“

Zum einen habe ich gerade für meine mündliche Religionsprüfung gelernt, dass es ratsam ist, nicht alles in der Bibel wörtlich zu nehmen. Zum anderen möchte ich an dieser Stelle Ihnen gerne die Zahlen meines Jahrgangs ans Herz legen: Anstatt eines bequemen Lebensstils haben fast zwei Drittel von uns einen Nebenjob, den sie trotz G8, Lernstress und Abiturvorbereitung im letzten Jahr weiterhin durchgezogen haben. 80% investieren mindestens fünf Stunden pro Woche in ihr Hobby, um sich musisch, künstlerisch oder sportlich weiterzubilden. Darüber hinaus sind aktuell 15 Personen ehrenamtlich aktiv, die gleiche Anzahl fängt nach der Schule einen Freiwilligendienst an.

Ja, ihr Vorwurf, dass wir unseren Cappuccino mit Hafermilch trinken, ist berechtigt. Obwohl das in den Cafés einen Aufpreis von 70 Cent bedeutet. Das liegt vielleicht daran, dass sich über die Hälfte meines Jahrgangs vegetarisch oder sogar vegan ernährt. Und das wiederum tatsächlich nicht, weil wir uns für etwas Besseres halten, sondern weil wir uns wirklich ernsthaft um das Klima und Fortbestehen unserer Erde sorgen. Wir kaufen regelmäßig im Unverpacktladen. Wir gehen nicht auf Fridays For Future Demos, damit wir den Unterricht verpassen oder mehr Zeit zum Chillen haben, sondern weil wir uns politisch integrieren und engagieren wollen. Auch hier sprechen die Umfrageergebnisse eine deutliche Sprache: Das politische Interesse in meinem Jahrgang ist überdurchschnittlich hoch und ausgeprägt. Vielleicht weil wir Angst haben, dass wir die letzte Generation sind.

Generell finde ich diesen Willen zur politischen Mitgestaltung aktuell mehr als wichtig. In Geschichte haben wir gelernt, dass eine Demokratie geschützt und verteidigt werden muss. Und nur weil – um einen meiner Lieblings-Podcaster zu zitieren – in Amerika endlich wieder Gehirne in den Führungspositionen angekommen sind, gilt dies leider nicht für alle Länder. Wenn also der rechtspopulistische Flügel durch unzufriedene Wählerstimmen mehr und mehr Zuwachs erhält, obwohl er alles ist – nur keine Alternative für Deutschland, bin ich dankbar dafür, dass gut 85% von uns Abiturient:innen die Chance politischer Partizipation für Lübecks Kommunalwahlen bereits genutzt haben. Gleichzeitig treten wir so dem Kommentar Thomas De Maizieres „wir würden zu wenig an die Gesellschaft denken“ entgegen.

Im Kleinen setzen wir uns übrigens schon länger für Gleichberechtigung ein.

So werden wir beispielsweise weiterhin Gendern. Obwohl dies, angeordnet vom Land, in unseren Abiturklausuren fröhlich als Fehler angestrichen wurde. Wir wollen tatsächlich nicht nur den Sprachfluss stören – sondern auch endlich alte Rollenbilder aufgeben, die ungehindert in Aussagen mancher Politiker:innen miteinfließen. Konservativ bedeutet das Bewahren vom Bewahrenswerten und nicht, dass eingestaubte und durchaus hinterfragungswürdige Einstellungen mit herumgeschleppt werden. Haben wir nicht in Kunst gelernt, dass die Farbpalette mehr enthält als Schwarz und Weiß? Dass alleine zwischen diesen beiden Farben unendlich viel grau liegt und es mehr gibt als die Unterscheidung zwischen Mann und Frau, gut und schlecht, faul und fleißig?!

Prinzipiell ist es meines Erachtens der falsche Weg, dass die verschiedenen Generationen verbal untereinander Krieg führen. Da wir in Bio darüber aufgeklärt wurden, dass wir nicht zur Klasse der Wirbellosen gehören, sollten wir grundsätzlich lieber gegenüber allen Personen, Gruppen und speziell den Menschen, die in unserem Land Zuflucht suchen ein wenig Rückgrat beweisen, uns gegenseitig die Hände reichen und uns gemeinsam den Problemen der Zukunft stellen.

Heute werden wir offiziell in die Welt entlassen. Wir haben kaum Erfahrungen, ja – aber wir haben Träume, Wünsche und kreative, neue Blickwinkel. Dank Ihnen, dank unseren Eltern und unseren Lehrer:innen, besitzen wir nun verschiedene Ressourcen, um kleine aber auch große Probleme anzunehmen, um Verantwortung zu tragen und um Ungerechtigkeiten zu bekämpfen. Herr De Maizière, ich bitte Sie: Machen Sie es uns nicht schwerer, als es sowieso schon wird. Vertrauen Sie uns. Oder, um – wie bei vielen Johanneums-Reden üblich – mit einem Zitat Willy Brandt zu enden: „Wir brauchen die Herausforderung der jungen Generation, sonst würden uns die Füße einschlafen.“

Lilli Kollmeier