Freiheit

Freiheit weiß man erst zu schätzen, wenn man sie nicht hat. Sie ist für uns selbstverständlich. Wir arbeiten, wo wir wollen. Wir wohnen, wo wir wollen. Wir reisen, wohin wir es wollen. Wir erlernen den Beruf, den wir wollen. Wir können unsere Meinung sagen, wenn wir es wollen. Wir können uns kaufen, was wir wollen.
Die ersten elf Jahre meines Lebens habe ich in der DDR verbracht. Das war dieser „andere“ Teil von Deutschland, den es so heute nicht mehr gibt. Ich ging mit meinem Bruder zur 21. Oberschule „Judith Auer“ in Ost-Berlin, benannt nach einer Widerstandskämpferin im Nationalsozialismus – wie so vieles in der DDR. In jeder Unterrichtsstunde meldete der Klassenratsvorsitzende der Lehrerin oder dem Lehrer „die Klasse zum Unterricht bereit“. Der Sportunterricht begannt traditionell mit einem Antreten an einer der Linien auf dem Hallenboden und einem „kräftigen ´Sport frei!´ “. Mehrmals im Schuljahr gab es Fahnenappelle auf dem Schulhof, bei denen sich die ganze Schule klassenweise aufstellte und bestimmte Ansagen gemacht wurden. Dort wurden auch besondere Leistungen gewürdigt oder Fehlverhalten öffentlich getadelt. Manchmal gab es Ärger, wenn wir in den Pausen oder im Unterricht in Gegenwart des Lehrers erzählten, was wir am Vortag im Westfernsehen geschaut haben. Ich erinnere mich an das nächtliche Bellen der Hunde, die ich als Kind in Hohenneuendorf an der Grenze zu West-Berlin gehört habe und an das Brandenburger Tor, durch das man eben nicht einfach durchgehen konnte.
Wir bekamen oft zu Hause gesagt, dass wir bestimmtes in der Schule nicht erzählen sollten, was daheim besprochen wurde. Mein Großvater hatte sich nach dem 17. Juni 1953 mit der Staatssicherheit angelegt und stand unter Beobachtung. Mein Vater war am Vorabend des Mauerbaus noch in West-Berlin im Kino gewesen. Die Zustände in der DDR hatten sich in den letzten Jahren immer weiter verschlechtert. Misswirtschaft, Mangel, Unfreiheit prägten den Alltag und führten zu steigender Unzufriedenheit in der Bevölkerung.
Diese Unzufriedenheit ließ viele tausende DDR-Bürger 1989 Wege suchen, wie sie das Land verlassen könnten. Und so entschieden sich auch unsere Eltern für eine Flucht nach Westdeutschland über die Prager Botschaft. Wir erfuhren dies Anfang November ´89, als wir eines Nachmittags aus der Schule nach Hause kamen. Nachts würde es losgehen. Wir Kinder konnten uns nirgends verabschieden. Haus, Hund und Garten blieben zurück. Zu diesem Zeitpunkt wusste niemand, dass die Mauer ein paar Tage später fallen würde und damit das Ende der DDR und die Einheit Deutschlands besiegelt sein würden. Es hätte auch alles ganz anders kommen können. Die Bilder vom Platz des himmlischen Friedens in Peking vom Juni desselben Jahres, die um die Welt gingen, waren Grund genug, sich in Sicherheit zu bringen.
Nichtmal ein Jahr danach gab es wieder nur noch ein Deutschland.
Heute frage ich mich manchmal, wie groß der Leidensdruck gewesen sein muss, um mit Anfang 40 und drei Kindern die Gefahren und Unwägbarkeiten auf sich zu nehmen, die eine solche Entscheidung mit sich bringt. Dieser Mut, noch einmal ganz neu anzufangen, die Hoffnungen für sich selbst und die Kinder auf eine bessere Zukunft in Freiheit, machen mich dankbar und stolz und lassen mich meine Eltern bewundern.
Ich bin froh, noch ein paar Jahre DDR echt und trotzdem schon bewusst miterlebt zu haben und sie nicht nur aus Erzählungen oder Geschichtsbüchern zu kennen. Es macht den Wert von Freiheit für mich größer und lässt manches nicht ganz so selbstverständlich erscheinen.
Inzwischen ist die Teilung Deutschlands länger Geschichte als sie bestand. In Frieden und Freiheit groß zu werden, ist ein hohes Gut. Feiern und schützen wir es!
Tobias Jacob
Bild: pixabay