„Sie bringt den Ton.“
Nachdem am letzten Freitag bereits das Domkonzert stattfand, war es am vergangenen Mittwoch Zeit für das zweite musikalische Highlight des Dezembers am Johanneum: Das Sancta-Lucia-Konzert.Es findet jedes Jahr in der Woche des 13. Dezembers, dem Gedenktag der heiligen Lucia, in der Aegidienkirche statt.
Zu Beginn des Konzerts begrüßten Frau Maetzel sowie Frau Salamon alle Gäste, die sich in der kalten, aber gemütlichen Aegidienkirche zusammengefunden hatten, sehr freundlich und wiesen darauf hin, das Konzert bitte einfach selbst zu genießen und die Atmosphäre nicht durch Handyfotos zu stören. Danach war es Zeit für die Lucia und den Lucius, die Kirche zu betreten. Dieses Jahr waren das Klara Barleben und Ferdinand Thiele, die wir hier auch schon vorab interviewt haben. Und dann beginnt es:
Alle Köpfe drehen sich zum Kopfende der Kirche, als die Stimmen der Sängerinnen aus dem Oberstufenchor erklingen. Die Lucia schreitet mit ihren Begleiterinnen ruhig in die die Kirche. Langsam wird das dunkle Gebäude durch den Kerzenschein erhellt. Das Kerzenlicht wird an die Kerzen aller Sänger:innen verteilt. Die hellen Töne des schwedischen Santa-Lucia-Liedes klingen durch die Kirche.
Untermalt wird das Konzert von schwedischen Gedichten sowie einer eigenes für diesen Tag verfassten Lucia-Geschichte, dieses Jahr von Helena Stöter geschrieben und auch vorgetragen:
Ein Toastbrot fällt um. 12,4 Millionen likes. Ich finde es ganz sicher lustig. Ich lache nicht, ich scrolle. Ein kleines Mädchen weint, ihre große Schwester reicht ihr einen Teddybären. Drückt man auf seine flauschige Hand, spielt er immer wieder dieselbe Audio ab. „I love you“, sagt die Stimme der kürzlich verstorbenen Mutter. Ich finde es ganz sicher herzzerreißend traurig. Ich weine nicht, ich scrolle. Mir wird ein Gericht vorgeschlagen. Irgendwas mit Nudeln und zu viel Käse. Es sieht lecker aus. Ich beschließe es nachzukochen. Ich scrolle und vergesse die Existenz des Videos augenblicklich. Eine Freundin von mir. Sie tanzt. Ich like, ich scrolle. Ein Mann mit orangenem Gesicht. Er schreit irgendetwas über Wahlen, oder Frauen, oder Ausländer. Bevor er seinen ersten Satz zuende stottern kann, scrolle ich, froh über dieses winzige bisschen Macht, ihn wenigstens nicht ausreden lassen zu müssen. Eine Frau, die mir tief in die Augen blickt. Sie erzählt mir, warum ich immer weiter scrolle. Dass ich atmen soll und etwas tun, das mich glücklich macht. Das Handy weglegen. Ich stimme ihr ganz sicher zu, ich scrolle. Eine Studentin mit Piercings und rotem Kopf. Sie spricht über einen CDU-Politiker, der über die Möglichkeit twittert, inoffiziell über das Frauenwahlrecht nachzudenken. Ich bin ganz sicher wütend. Mein Kopf wird nicht rot, ich scrolle.
Es ist genug, es reicht. Ich lege das Handy weg, verlasse mein Zimmer.
Im Wohnzimmer meine Familie. Mit steinernen Gesichtern blicken sie auf den Fernseher. Die Tagesschau. Ein Mann, mit einem Plakat in der Hand, auf dem steht „Your Body, My Choice“ und einem selbstsicheren Blick in den leeren Augen. Frauen, die sich verdeckt halten müssen vor ihrer eigenen Haustür, um einen kleinen Rest an Sicherheit empfinden zu können. Ein FDP Politiker, der…
Nein, es reicht, es ist genug.
Ich verlasse das Haus. Der Weihnachtsmarkt ist mein Ziel. Die Wärme der bunt geschmückten Lübecker Fassaden. Der Duft von Punsch und frischen Mutzen. Einen Moment lang komme ich fast zur Ruhe.
Ein Mann rempelt mich an. Grelle Lichter blenden mich und ich komme nicht darum herum, zu bemerken, dass die Musik, die aus dem Riesenrad tönt, ein wenig zu laut ist. Ich wünsche mir eine pudrig-weiße Decke, die das Chaos vor mir zumindest für einige Tage versteckt.
Fluchtartig verschwinde ich vom Weihnachtsmarkt, hinein in eine Kirche.
Das Licht ist gedämmt. Wir warten auf den Anfang. Noch huschen hier und dort kleine oder auch größere Gestalten in weißen Gewändern und roten Gürteln vorbei, Kerzen in ihren Händen, Texte in ihren Köpfen, Noten in ihren Herzen. Noch tuscheln ein paar aufgeregt Eltern über die letzten Jahre und das schlechte Wetter. Noch schießen stolze Großeltern ein letztes Foto von ihrem kleinen Engel.
Dieselbe warme Begrüßung wie in jedem Jahr erklingt.Es wird gebeten, die Handys auszuschalten. Andächtige Stille, Dunkelheit. Dann Lucia. Sie betritt die kühle Kirche und bringt herein die bekannte Melodie und das Licht. Es verteilt sich im Raum, während es stumm von Person zu Person weitergegeben wird.
Lucia, die bereits 300 nach Christus Herzen und Mägen still und heimlich füllte, ist auch heute Abend bemüht, einen Hunger zu stillen, von dem ich nicht einmal wusste, dass er existiert.
Sie bringt den Ton, sie vertreibt die Stille in meinem Kopf. Ich lausche. Ich fühle.
Das erste mal seit langem bin ich nur hier in dieser Kirche, in meinem Kopf nicht das Schicksal der Welt – nur der Klang und das Licht.
Weihnachten hat begonnen.