Zeitreise

„Jeder Schüler hat die Pflichten der Wahrhaftigkeit, des Fleißes, des Gehorsams und der Ehrerbietung gegen alle Lehrer der Schule sowie der Verträglichkeit mit seinen Mitschülern in und außerhalb der Schule gewissenhaft zu erfüllen.“ Dies ist § 5 der Schulordnung des Johanneums. Allerdings nicht der aktuellen, sondern der von 1907. Erst ein Jahr zuvor war die Schule in das neu errichtete heutige Hauptgebäude eingezogen.

Umfassende Einblicke in das Schulleben vor einhundert Jahren erhalten wir durch eine besondere Entdeckung: Lars Thies, der Haushaltsauflösungen übernimmt, brachte uns am 26. September in einem schlichten Leinenbeutel wahre Schätze. Der ehemalige Schüler Walter Berg, der das Johanneum von 1911 bis 1920 besuchte, hat nicht nur seine Zeugnisse, sondern auch Dokumente über seine Aktivitäten, Konzerte, Klassenfahrten, Zeitungsartikel u.ä. ausgesprochen sorgfältig abgeheftet. Herr Thies hat diese Mappen gefunden und sie freundlicherweise dem Johanneum übergeben.

Erste Erkundungen zeigen nicht nur ein beeindruckendes v.a. musikalisches Engagement des Schülers, sondern sind auch zeitgeschichtliche Zeugnisse, die veranschaulichen, wie sich gesellschaftliche Normen und politische Veränderungen auf seinen Alltag auswirkten.

Gemeinsam mit 41 anderen Jungen begann Walter seine Schulzeit am Johanneum als Sextaner. Im Verlauf der Jahre mussten offensichtlich viele Mitschüler das Realgymnasium verlassen. In der Untertertia, also der 8. Klasse, waren es nur noch 29 Schüler. Walters Zeugnis listete weitgehend noch heute bekannte Fächer auf. Aus heutiger Sicht aber besonders seltsam: Auf dem Zeugnis wurde dokumentiert, welchen Rangplatz Walter aufgrund seiner Leistungen in der Klasse einnahm. Das neue Schuljahr begann damals immer zu Ostern, die Halbjahreszeugnisse gab es zu Michaelis, einem Heiligentag, der am 29. September begangen wird.

In der Unterprima (12. Klasse) hatte Walter 1918 noch 22 Mitschüler – und besonders auffallend – auch Mitschülerinnen!

Ein Jahr später in der Oberprima waren es nur noch 9. Viele der anderen sind sicherlich in den letzten Kriegsmonaten des Ersten Weltkriegs als Soldaten eingezogen worden. Dass nicht alle nach Hause wiederkehrten, zeigt die Einladung zu diesem Konzert:

Walter Berg hat diese Konzertankündigung sicherlich auch deshalb archiviert, weil er sich als Schüler für das musikalische Leben am Johanneum engagierte. Er komponierte selbst, veranstaltete mit Mitschülern Konzerte und gründete schließlich eine Musikvereinigung am Johanneum „mit dem Ziele, der Musik eine ihr gebührende Stellung in unserm Schulleben zu schaffen“.

Die monatlichen Konzerte wurden umfangreicher und vielfältiger und auch regelmäßig in Zeitungsartikeln besprochen. Die Eintrittspreise gelten in etwa auch heute.

All dies war möglich, obwohl Walter Berg umstürzende Zeiten erlebte. Besonders interessant ist diese Genehmigung, die es ihm gestattete, nach 21.00 Uhr unterwegs zu sein. Unterzeichnet am 9. November 1918 vom Soldatenrat. Das Datum lässt aufhorchen: An diesem Tag wurde in Deutschland erstmals die Republik ausgerufen, und sogenannte Arbeiter- und Soldatenräte übernahmen die Macht, die bis dahin noch die Institutionen des Kaiserreichs innegehabt hatte.

Puzzlestücke eines Lebens, die wir nach und nach zusammensetzen können, um ein umfassenderes Bild zu erhalten. Sie zeigen, dass auch hinter schwarz-weiß Bildern und vergilbten Zeitungsausschnitten ein Junge mit einem bunten Leben wiederzufinden ist, der sicherlich auch mal durch die Gänge des Johanneums rannte, mal mehr und mal weniger glanzvolle Zeugnisse erhielt, sich mit den politischen Bedingungen seiner Zeit arrangieren musste und die Liebe zur Musik entdeckte.

Und vielleicht auch mal heimlich bei Niederegger war…

Inken Christiansen