Stachelschweine in der Pandemie

Ein eindrückliches Bild der menschlichen Gesellschaft schuf Arthur Schopenhauer 1851 in seiner Parabel „Die Stachelschweine“: Um sich bei Kälte gegenseitig zu wärmen, rückt eine Gesellschaft von Stachelschweinen enger zusammen. Hierbei stechen sich die Individuen jedoch gegenseitig mit ihren Stacheln, sodass sie wieder voneinander abrücken. Dieser Vorgang wiederholt sich immer wieder. Die Deutung liefert Schopenhauer gleich mit: Der Mensch braucht die Wärme der Gemeinschaft, fühlt sich aber gleichzeitig von den „vielen widerwärtigen Eigenschaften und unerträglichen Fehlern“ seiner Mitmenschen abgestoßen. So ist letztlich das Zusammenleben in der Gesellschaft ein permanentes Austarieren des angemessenen Abstands zueinander.

Die 9a kam nicht umhin, zu bemerken, dass unsere aktuelle gesellschaftliche Situation veränderte Parameter für Schopenhauers Stachelschwein-Metapher bietet. Wie ergeht es denn den Stachelschweinen, wenn plötzlich das Zusammenrücken erschwert oder sogar untersagt ist? Und wenn andererseits das Zusammensein mit einigen wenigen, z.B. in der Familie, ungewohnt eng, ungewollt distanzlos ist?

Vor dem Hintergrund dieser Überlegungen entstanden Fortsetzungen zu Schopenhauers Text, die die verschiedenen Aspekte unserer aktuellen Realität abbilden.

Tim, Ole und Fanny thematisieren in ihrer Lösung die allgemeine Ratlosigkeit:

[…] Die Stachelschweine sahen ein, dass niemand etwas für ihr Leid, das zu Verzweiflung führte, konnte. Schließlich kamen sie zu dem Schluss, dass sie eine Lösung für ihr Problem finden mussten. Bedauerlicherweise wusste niemand, wie dieser Weg aussehen konnte. Es stand hingegen fest, dass jeder darauf achten musste, neue Berührungen zu vermeiden.

Nik, Arwed und Swana konzentrieren sich auf das als viel zu eng empfundene Zusammensein in der häuslichen Gemeinschaft im Lockdown. Sie deuten zudem, nach Schopenhauers Vorbild, selbst das von ihnen angewendete Bild des Käfigs:

Doch gerade als die Stachelschweine eine mäßige Entfernung voneinander gefunden hatten, in der sie genug Abstand hatten und ihnen trotzdem nicht kalt wurde, fiel ein Gitter um sie herum und mitten in die Herde hinein, sodass sie in kleineren Gruppen in einem Käfig eingesperrt waren. In ihrem Käfig waren sie auf so engem Raum eingesperrt, dass sie sich gegenseitig stachen, doch gleichzeitig kamen sie nicht zu den anderen Stachelschweinen, sodass es ihnen auf der Seite kalt wurde. […] Durch die ständige Nähe und gleichzeitig die aufgezwungene Situation des Abstandhaltens wurden die Stachelschweine mit der Zeit immer unruhiger. Sie wollten aus dem Käfig heraus und sich wieder mit anderen Stachelschweinen wärmen. […]

So treibt Corona die Menschen mit den Mitmenschen, mit denen sie zusammenleben,  auf sehr engem Raum zusammen und gleichzeitig werden die Menschen voneinander distanziert, indem sie sich nur noch virtuell treffen dürfen. So entstehen das Bedürfnis nach Abstand von den Mitbewohnern und gleichzeitig das Bedürfnis nach Nähe zu den anderen Menschen der Gesellschaft. […] In der Gesellschaft wird immer mehr Unmut deutlich und es steigen Ängste auf […].

Auch Rosa, Niklas und Samira sprechen in ihrer Parabelfortsetzung über die zunehmende Ungeduld der Menschen. Sie sehen mit Sorge, dass die notwendigen Abstandsregeln nicht mehr konsequent genug eingehalten werden:

[…] Das Verlangen nach einem Treffen in der Gesellschaft wurde immer größer, was zur Folge hatte, dass die Stachelschweine die Regel, dass sie sich nur zu zweit sehen konnten, brachen und alle zusammenkamen. Für den Moment, in dem sie sich wiedersahen und gegenseitig wärmen konnten, war alles wunderschön; am nächsten Tag allerdings starben drei von ihnen an der tödlichen Krankheit. Also wurden die Maßnahmen weiter verschärft, sodass sie sich nicht einmal mehr zu zweit aufhalten durften. Der Schmerz der Einsamkeit erwies sich als noch elender als der Schmerz der Zweisamkeit. Die darauffolgenden Wochen litten die Stachelschweine zutiefst […].

Emma, Karolina, Ella und Tamara finden ein berührendes Bild für die Traurigkeit und Mutlosigkeit, die viele Menschen zunehmend empfinden:

[…] Durch die Enge spürten die Stachelschweine die Stacheln der anderen mehr als zuvor, doch da sie sich nicht voneinander entfernen konnten, stumpften ihre Stacheln ab oder brachen ganz.  […] Viele der Stachelschweine wurden mit der Zeit immer trauriger und die Farbe aus Fell und Stacheln wich. […]

Jesper und Eric dagegen wissen, wie der Situation trotz sich verschärfender Rahmenbedingungen zu begegnen ist: (Blätter-)Masken aufsetzen und sich auf die Gemeinschaft besinnen.

[…] Eines der Tiere kam auf die Idee, sich über die Blätter vom alten Baum zu wälzen, um jene Stacheln zu bedecken. Anfangs funktionierte die Methode noch recht zuverlässig, jedoch waren einige alte Tiere bald zu schwach, um sich über die Blätter zu wälzen und sie konnten die anderen nicht vor sich schützen. Zusätzlich verschlechterte sich die Situation durch den Anstieg kälterer Temperaturen, was die Blätter so verhärtete, dass sie nicht mehr halfen. Die Stachelschweine taten sich zusammen, um sich auf einen Winterschlaf vorzubereiten. Dabei halfen sie sich gegenseitig und standen füreinander ein. Gemeinsam sammelten sie mit ihrer letzten Kraft Blätter, Nüsse und Pilze, um sich in der kalten Winterzeit zu ernähren. Die Blätter legten sie zwischen sich und ihre Genossen, um sich im Schlaf nicht zu stechen. Sie wissen nicht, was vor ihnen liegt, aber sie wissen, mit wem sie es durchstehen.

Hoffnung auf ein Ende der Pandemie geben uns schließlich auch Linnea, Lena und Catharina. Ihr Rat: diszipliniertes Verhalten!

[…] Kaum begann der Frühling, hatte eines der Stachelschweine mit einem starken Juckreiz zu kämpfen, und nach einigen Tagen voller Qual war das Übel endlich bekannt: es krabbelte, war winzig klein und sprang hin und her. Das Fell des Stachelschweins war voller Flöhe! Die Stachelschweine, in Panik versetzt, kamen zu dem Entschluss, voneinander Abstand halten zu müssen. Es war mühsam, sich an die Vereinbarung zu halten, aber um die Verbreitung des Ungeziefers zu vermeiden, wollten sie sich bemühen. Sie harrten einige Wochen so aus, und endlich, nach einiger Zeit, war auch der letzte Stich verschwunden. Die Stachelschweine verhielten sich in dieser Zeit sehr diszipliniert und überstanden es so gemeinsam.

In diesem Sinne: Machen wir es wie die Stachelschweine – und überstehen es gemeinsam!

Solveig Jensen und die 9a

Bild: Lena Thiele