200 Jahre alt und doch so aktuell

Wie wird der Mensch zum Mörder? Diese Frage könnte sich Georg Büchner gestellt haben, als er sich seinem Dramenfragment „Woyzeck“ widmete. 200 Jahre später beweist Malte C. Lachmann mit seiner Inszenierung die immerwährende Aktualität des Werks – mit besonderem Fokus auf dem Begriff „Femizid“.

Durch Unterstützung des Schulvereins konnten mehrere Oberstufenkurse des Johanneums das Theaterstück „Woyzeck“ vor den Weihnachtsferien besuchen und sich 1, 5 Stunden mit Spannung und Gesellschaftskritik beschäftigen.
Hauptcharakter Franz Woyzeck, ein Lohnarbeiter, versucht, seine schlechte Bezahlung durch das Bedienen des Hauptmanns zu verbessern und stellt sich für körpereigene Experimente zur Verfügung. Auf diesem Weg gerät er in die Fänge eines verrückten Arztes, der ihn auf eine Erbsendiät setzt. Körperlich und mental geschwächt setzen der Psyche des Mannes die vorherrschenden Machtgefälle und Demütigungen des Hauptmannes stark zu. Schlussendlich verleitet ihn die Eifersucht dazu, seine Partnerin Marie zu ermorden, da sie ihn mit dem Tambourmajor betrügt.
Die vielen Eindrücke – Licht, Bühnenbild, Musik, Kostüm -, die ab Vorhangöffnung auf die Netzhaut niederprasseln, wirken im ersten Moment fulminant, aber auch leicht überfordernd. Daher ist die Einführung in die Thematik eine halbe Stunde vor dem Stück oder vorher noch zu Hause durch Buch oder Internet zu empfehlen, um in den ersten Minuten nicht vor Überwältigung vom Stuhl zu fallen.
Einsamkeit, Verwirrung und Hilflosigkeit – das sind wohl nur drei der Gefühle Woyzecks, mit denen er in Folge seiner zunehmend schlechten geistigen Verfassung konfrontiert wird. Unterstrichen wird dieser Zustand durch die Musik von Tom Waits, die dieser passend zum Drama komponiert hat. Besonders die rauen und kratzigen Stimmen der Schauspieler:innen harmonieren mit ihr und tragen so zu einer einschüchternden, gleichzeitig morbide schönen Stimmung bei.
Beeindruckend ist die Leistung der Schauspieler:innen, unter anderem die herrliche Verrücktheit Andreas Hutzels als Arzt und die Gesangskunst Sonia Cariasos als Marie.
Nun ist Büchners Dramenfragment keine leichte Kost, und auch das Schauspiel erfordert etwas Zeit zur Verarbeitung des Gesehenen, doch stößt es unerwartete Denkprozesse an. So auch zu einer Zahl, die in Lachmanns Inszenierung großgeschrieben wird: 139. Diese Ziffer beschreibt die Anzahl an Frauen, die in Deutschland 2020 aufgrund ihres Geschlechts ermordet wurden. Nahezu jeden dritten Tag eine. Und diese Art von Mord hat einen Namen: Femizid. Auch Marie wird Leidtragende dieses Verbrechens und bietet damit die Grundlage, um Femizide in „Woyzeck“ aufzugreifen. Und das ist richtig so, denn die Ermordung einer Frau aufgrund ihres Geschlechts darf nicht als Tat der Liebe akzeptiert werden, die den Mörder in den Vordergrund stellt und ihn als Opfer tragischer Umstände darstellt, der aus Leidenschaft handelt.

Viola Ernst, Q1c, für die Presse-AG