Mensch-Sein?

Das ist menschlich?!

Ich möchte etwas voranstellen: Alle folgenden Annahmen kommen aus einer rein menschlichen Perspektive und können keine anderen einbeziehen. Das ist für die gesamte Fragestellung essentiell, da man es einzig und allein als Selbstanalyse betrachten kann und man muss kein Psychologe sein, um zu wissen, dass die Selbstwahrnehmung von der Fremdwahrnehmung meistens stark abweicht.

In vielen Diskussionen steht eine biologische Begründung am Ende – und sei sie noch so unwissenschaftlich: „Das ist menschlich“, heißt es dann oft, wenn jemand Fehler begeht oder mit anderen Menschen schlecht umgeht. Was ist dieses menschlich genau? Welche Einstellung steht dahinter?

Es gibt klare wissenschaftliche Erkenntnisse zur Ähnlichkeit von Menschen und zum Beispiel Bonobos. Es ist wissenschaftlich anerkannt, dass Menschen biologisch betrachtet eine Tierart sind. Es gibt Kriterien, die Homo sapiens als Spezies einzigartig machen – ja, aber nicht mehr oder weniger als den Hund vom Fisch unterscheidet. In der Evolution, die immer weitergeht, sind wir nur eine von vielen Entwicklungen. Wir sind auch nicht das Ende oder das Ziel der Evolution. Die Evolution hat kein Ziel. Die Evolution ist ein Prozess, der aus vielen kleinen Schritten besteht, die sich gegenseitig beeinflussen – aber sie ist nicht von einer höheren Macht gelenkt. Menschlich auf einer biologischen Ebene ist also vor allem die Zusammensetzung unserer Gene.

Wenn wir Tierdokus anschauen, dann sehen wir oft, wie andere Tiere sich gegenseitig zerfleischen. Wir sehen auch süße Babys, natürlich. Aber oft wird erst das süße niedliche Tigerbaby gezeigt, das daraufhin größer wird und am Ende eine Antilope aufhetzt und tötet. Man muss sich bewusst sein, was wir subtil damit ebenfalls vermitteln: „Guckt mal, die Tiere. Wie primitiv sie sich gegenseitig zerfleischen – gut, dass der Mensch die Doku darüber dreht, aber selbst nicht in solche Dinge involviert sind. Dafür sind wir viel zu entwickelt und kultiviert.“ Der Forscher redet dann natürlich total objektiv darüber, analysiert die Verhaltensweisen und manchmal kommt noch ein Halbsatz, was das jetzt vom Menschen unterscheide. Ich habe noch nie in meinem Leben eine Doku gesehen, in der dieses zerstörerische Verhalten gezeigt und gleich darauf verglichen wurde mit der massenhaften Tötung von Tieren (und Menschen) in der industrialisierten Welt. Man kann nicht wegdiskutieren, dass wir Tiere töten – und zwar mutwillig und großen Teils für die Mülltonne. Wir rauben Pflanzen, anderen Tieren den Lebensraum. Wir zerfleischen unsere eigene Spezies. Das alles macht der Mensch. Jetzt möchte ich nochmal auf die Frage zurückkommen: Was ist dieses menschlich genau?

Ein Beispiel für eine Diskussion, in der dieses menschlich oft vorkommt, ist die „Vegetarier- Diskussion“. Ich möchte es nicht weiter ausführen, jeder kennt diese Diskussionen und hat seinen Standpunkt. Am Ende steht auf der Seite der Fleischfressenden oftmals: Tierleichen zu essen sei menschlich (und gesund), denn das würde schon immer getan werden. Wir wollen uns in der eben angesprochenen Tierdoku von den Tieren abgrenzen, denn so primitiv seien wir ja nicht, dass wir einfach andere Tiere töten. Gleichzeitig sagen wir auf der anderen Seite, es sei menschlich, Tiere zu essen. Damit schieben wir nicht nur die Verantwortung ab, sondern es steht auch im diametralen Gegensatz zu unserem eigenen Selbstverständnis. Wir machen also genau das gleiche wie die Tiere – nur in viel größerer Stückzahl. Es ist kein Stück besser.

Dieses menschlich scheint also eine Art Rechtfertigung zu sein.

Schauen wir auf ein anderes Beispiel. Eine Hundebesitzerin geht mit ihrem Hund spazieren. Plötzlich springt das Tier sie an und verletzt sie möglicherweise. Manche Herrchen bleiben ruhig – andere schlagen den Hund. Sind Nicht-Tierliebhaber dabei kommt oft ein Kommentar wie „Der ist aber schlecht erzogen, hast du gar keine Kontrolle?“ Oder es wird versucht, zu erklären, warum der Hund gerade jetzt hochspringt.

Zwei Freunde telefonieren. Sie kennen sich sehr gut, verbringen viel Zeit zusammen. Trotzdem ist der eine aggressiv, nur genervt und hört nicht richtig zu. Am nächsten Tag entschuldigt er sich und die Sache ist gegessen: „Das ist doch ganz normal. Jeder hat mal einen schlechten Tag. Das ist menschlich.“

Wenn man die Definition von Menschlichkeit recherchiert, findet man folgendes: „Der Begriff menschliches Verhalten (mit Betonung des Attributs menschlich) hat einen normativen Gehalt. (…) Unter dieser Voraussetzung bezeichnet das Wort Menschlichkeit in einer engeren Wortbedeutung Züge des Menschen, die objektiv als richtig oder gut gelten, zum Beispiel Mitleid, Nächstenliebe, Güte, Milde, Toleranz, Wohlwollen, Hilfsbereitschaft. (…)“ (Quelle: Wikipedia)

Die drei letzten Absätze stehen in einem Widerspruch zueinander. Dem Hund wird nicht verziehen, obwohl er doch ein Tier ist, das ja eigentlich laut der Tierdoku primitiv sei. Dem Menschen, dem höher entwickelten Wesen hingegen, wird mit der Begründung der Menschlichkeit soziales Fehlverhalten nicht negativ angerechnet. Menschlich ist aber laut Definition ein Zug des Menschen, der als richtig gilt. Aggression und schlechte Laune kommt dort nicht vor. Das heißt, eigentlich ist es nicht menschlich, intolerant und wütend zu sein.

Menschlich muss also noch etwas anderes sein.
Schauen wir also auf die Tatsachen: Was macht der Mensch? Welchen Einfluss hat das auf andere Arten?

Mit der Industrialisierung beginnt die überdurchschnittlich schnelle Erderwärmung. Dadurch verändert sich der Lebensraum aller Arten drastisch, viele sterben oder werden vermutlich noch sterben. Die industrielle Landwirtschaft benötigt immer mehr Pestizide und Dünger, so wird der Boden zerstört, was vor allem Auswirkungen auf Tiere unter der Erde hat und durch die Monokulturen leidet die Insektenlandschaft massiv. Die Verschmutzung der Meere durch u.a. Plastikmüll führt zu massivem Tod von Fischen. Die industrielle Fischerei bringt das Ökosystem Meer durch den massiven Eingriff in die Populationen durcheinander; die Beifangquote ist enorm, was vielen Tieren unnötig in den Tod zieht. Durch die von der Erderhitzung ausgelöste Versauerung der Meere sterben Korallenriffe und dieser Lebensraum, der ein Schutzort für viele Fische ist, geht verloren. Der Regenwald wird für Soja-und Palmölplantagen abgeholzt, was durch andere menschlich gemachte Faktoren sowieso schon bedrohte Tierarten den Tod bedeutet. Elefanten, Walen und anderen beeindruckenden Tiere werden aufgrund des Fleisches oder bestimmter Körperteile wie den Stoßzähnen bejagt.

Aber Menschen haben Nationalparks und rote Listen erschaffen, um bedrohte Tierarten zu schützen. Außerdem forschen sie am Genmaterial verschiedener ausgestorbener Arten, die sie perspektivisch in den nächsten Jahren theoretisch „wiederherstellen“, also im Labor neu beleben können (z.B. Mammuts).

Und jetzt stelle ich erneut die Frage: Was ist eigentlich realistisch betrachtet menschlich? Was macht den Mensch zum Menschen?

Ist es vielleicht doch eher Größenwahnsinn, der uns durch die kapitalistische Lebensweise die Erderwärmung als größte Krise unserer Zeit verschafft hat? Ist es vielleicht Machtgier, die die Abholzung des Regenwalds erklärt?
Ist es vielleicht Arroganz, die dafür verantwortlich ist, dass wir um all das wissen, aber dennoch denken, der Mensch sei die best entwickelte Spezies? Ist es vielleicht Selbstverliebtheit, die zwar der Aufklärung und dem Anspruch von Wissenschaft widerstrebt, aber dennoch für das süffisante Lächeln auf unserem Gesicht beim Betrachten einer mit Angsthormonen durchzogenen Leiche auf unserem Teller unter dem Namen „Roastbeef“ verantwortlich ist? Ist es vielleicht Egozentrik, die zur Erfindung von Gottesmythen geführt hat, der im Menschen angeblich sein Ebenbild schuf?

Andere Frage: Ist die kognitive Dissonanz, mit der wir konsequent bei jeder unserer Handlungen leben, vielleicht der Kern des Menschseins? Ist die Anpassung von Maßstäben an unser Handeln das, was man objektiv nennt? Ist die Konstruktion von Moral, Menschenrechten und Würde, dem wir mit unserem gesamten Handeln widersprechen, die Krönung der Schöpfung?

Die Diskussion um die Frage „Was macht den Menschen zum Menschen?“ erscheint mir skurril, wenn man sich allein die Auswirkungen des menschlichen Handelns anschaut. Man kann diese Perspektive nicht einfach wegdiskutieren. Wir können die Diskussion abbrechen, aber wir werden weiterhin die Folgen unseres Handelns spüren. Wir können sagen, den Menschen prägt Mitleid, Nächstenliebe, Güte, Milde, Toleranz, Wohlwollen und Hilfsbereitschaft. Dann schauen wir raus und sehen keinen Schmetterling mehr in einem Sommer mit Höchsttemperaturen seit Beginn der Wetteraufzeichnungen. Philosophisch- ethische Diskussionen müssen sich von der realen Welt lösen – aber sie können nicht ohne Kontext stehen. Wenn die Antworten der Wissenschaft und der realen Welt widersprechen, dann sind sie wertlos. Sie müssen die Umstände der Zeit einbeziehen und immer wieder neue Maximen zum Handeln aufstellen, an denen sich orientiert werden kann.

„Nicht das, was du weißt, bringt dich in Schwierigkeiten, sondern das, was du sicher glaubst, obwohl es gar nicht wahr ist.“ (Mark Twain) Vielleicht sollten wir aufhören, uns über sicheren Glauben zu definieren.

Sophia Marie Pott, Q1d